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Samstag, 12. Mai 2018

Aus der Echokammer der Eurovision

Wie kann ein banaler Eurovisions-Beitrag promotet werden, so dass Musikbusiness und Militär davon profitieren? Mit welchen Methoden lässt sich die rechte LGBT beim Eurovision Song Contest regelmäßig instrumentalisieren? 

Psychologisches Nervengift der besonderen Art 
Erinnert sich noch jemand an die Skripal-Affäre? Skripal und seine Tochter Julia wurden am 04.03.2018 im englischen Salisbury wegen Angriff mit Nervengift bewusstlos auf einer Parkbank gefunden. Britische Medien beschuldigten Russland, diesen Anschlag verübt zu haben, legten jeden Tag mit Vorwürfen nach und forderten westliche Verbündete auf, es ihnen gleich zu tun.

Ausgerechnet zu dieser Zeit, am 12.03.2018, tweetete der Sänger Ryan O-Shaugnessy, der Irland dieses Jahr am 12.05.2018 beim Eurovision Song Contest in Lissabon vertritt:

Ryan O'Shaughnessy‏Verifizierter Account @Ryan_Acoustic: The Russians are now threatening a broadcasting ban because of my video for ‘Together’. Anti-gay propaganda regime at its finest! Hilarious if you ask me.. #IDareYou. Seine Aussage bezieht sich auf dieses Video. Im Video wird gesagt, „dass Russland das ESC-Musikvideo aus Irland boykottieren KÖNNTE.“ Ohne Belege, ohne Zitate, einfach mal so. Russland könnte das ja machen…

Diese flappsige Bemerkung wurde sofort aufgegriffen und massenhaft im Internet verbreitet, wie man am Tweet des Iren und später auf den Facebookseiten der ESC-Fans mitverfolgen konnte. Aber wer oder was ist eigentlich Pinksixty? Unter dem youtube-Video finde ich folgende Info: „Pinksixty.com is a ground-breaking service bringing you a daily round-up of LGBT stories from around the globe in just 60 seconds. Produced by experienced broadcasters, we deliver the stories that matter to the gay, lesbian, bisexual and transgender communities around the world. We also offer a weekly entertainment package to keep you smiling over the weekends.“ Als Standort wird Großbritannien angegeben. Ist es da Zufall, dass sich diese Fake-Meldung nahtlos in die von UK losgetretene Empörung über Russland im Fall Skripal einfügt?

Und so wirken Fake-News 
Am 28.04.2018 begannen in Lissabon die Proben für den ESC und damit auch die zahlreichen Meet & Greets und Pressekonferenzen mit Stars und akkreditierten Fans. Hier erlebte man zum ersten Mal, dass Singer-Songwriter Ryan O-Shaugnessy sein angeblich umstrittenes Musikvideo mit dem schwulen Paar 1 zu 1 auf die ESC-Bühne übertragen hatte. Bissig gefragt: Bot sich das nach den bisherigen Behauptungen etwa an?

Bei der 1. PK des Iren wird er nach dem russischen Boykott befragt. Er schildert kurz, wie er diesen Vorfall subjektiv erfahren hat und gibt immerhin zu, dass er nicht weiss, ob es Fake oder Fakt ist. Egal, es wird als Anlass genommen, in Facebook gegen Russland mobil zu machen, beobachtet u. a. in der Facebook-Gruppe „Eurovision Song Contest – Fans Club“. Und wie es so läuft bei der „stillen Post“, wird für die User aus Fake am Ende Fakt, aber nur wegen der ständigen Wiederholung und massenhaften Verbreitung.

Bis zur 2. PK von Irland jedoch scheint sich diese Hetze bzw. Befürchtung totgelaufen zu haben, hier beklagt der irische Sänger nur noch die Zustände im eigenen, konservativ-erzkatholischen Heimatland Irland. Zu einem Boykott des irischen Beitrags im russischen TV während des 1. Semifinales habe ich (und wohl auch die Schwulen) keine Informationen gefunden.

Wenn nicht Russland, dann doch jedenfalls China
Als nicht-europäisches Land nimmt Australien bereits seit 2015 am ESC teil. Genau wie die nicht-europäischen Länder Kanada und Südafrika hat auch China 2013 sein Interesse bekundet, im Contest involviert zu sein und durfte den ESC übertragen. 2016 wurden sogar die chinesischen Kommentatoren vor Ort in einem Video vorgestellt. Nun aber hat China dieses Jahr während der Übertragung des 1. Semifinales den irischen Beitrag, die Regenbogenflagge und die Tatoos des albanischen Sängers geschnitten. Daraufhin hat die EBU blitzschnell mit Aufkündigung des Vertrages reagiert.

Nun, da China aus dem Spiel ist, wird von Fans vor Ort wieder die Frage aufgeworfen, ob nicht vielleicht auch das bereits ausgeschiedene Russland den Auftritt des Iren doch noch zensiert.

Zum Auftritt des Iren: Hier passiert nichts. Dass das überhaupt etwas mit Schwule zu tun hat, habe ich nicht gesehen, sondern musste ich nachlesen. Zudem haben schon alle vorangegangenen Provokationen von Dana International (1998) bis Conchita Wurst (2014) nicht gezogen, warum also sollte Russland sich ausgerechnet über dieses Video mokieren? Allein das wirkt auf mich wie an den Haaren herbei gezogen. Aber lassen wir uns überraschen...

Fragen über Fragen...
Warum Chinesen allerdings die Übertragungsrechte des ESCs kaufen, bleibt mir ein Rätsel. Geht es wirklich nur ums lukrative Show-Business? Wollen sie die Show irgendwann aufkaufen? Warum eine Show übertragen, um dann bestimmte Szenen, die nicht ihrer Tradition entsprechen, zu zensieren? Wird damit die Konfrontation geradezu gesucht?

Bei Befürwortern der sog. Offenen Gesellschaft rennt man mit diesen Meldungen offene Türen ein. Schwule können sich damit ihrer Exklusivität versichern, sie können Geschlossenheit demonstrieren, sich ihre Feinde bestätigen und sich weltweit als arme Opfer inszenieren. Die betreffenden Länder hingegen scheinen sich von westlich gefeierten Beliebtheiten und Popularitäten nicht beeindrucken zu lassen. Gehen sie gar davon aus, dass die "Reflexbeißer" der Offenen Gesellschaft mit ihrem geschlossenen Auftreten gar nicht den Zuspruch in der Gesellschaft haben, den sie mit Massenshows und Awards vortäuschen?


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Samstag, 14. April 2018

Haben Politik und Militär dieses Jahr den Eurovision Song Contest vergessen?

10 Jahre ein weltweites Alleinstellungsmerkmal als Frau in einem unfairen Spiel, das seit 20 Jahren auch als „schwule Sportart“ bezeichnet wird: der Eurovision Song Contest. 10 Jahre lang regelmäßig Blogtexte vor der Austragung über politischen und militärischen Missbrauch, für die ich genauso regelmäßig wie reflexartig von der rechten LGBT als Verschwörungstheoretikerin angegriffen wurde. Als diese möchte ich mir und meinen Gegnern auch in einem ereignislosen Jahrgang treu bleiben. 

In 2018 verläuft die Vorbereitungsphase politisch derart ereignislos, dass ich im doppelten Sinne sprachlos bin 
Kein Diktator weit und breit, der den ESC für böse Selbstdarstellung missbraucht. Kein Jammern wegen Homophobie. Kein Schreihals, der mit einem Stalin-Song Russland dämonisiert und die Nato-Anhänger entzückt. Keine ermüdende Promo über schwedische Super-Heroes. Kein Fräuleinwunder mit Onkel im deutschen Kanzleramt, die mit schiefen Tönen total emotionalisiert. Kein männlicher Teilnehmer, der sich vorbildlich auf den Operationstisch zur Frau hat umoperieren lassen. Kein Mann mit Bart im Abendkleid als die Krönung westlicher Werte. Plagiatsvorwürfe? Regelbrüche? Alles kein Thema dieses Jahr. 

Ist Schweigen die neue Verschwörung? 
Liegt es an der Zurückhaltung und Bescheidenheit der Portugiesen? 
Oder hat die EBU die Reißleine gezogen? 
Sind durch die inszenierten Polit-Querelen die Einschaltquoten gesungen? 
Hat sich die Telekommunikationsindustrie deswegen gar über sinkende Einnahmen beschwert? 
Hat es gar mit dem Regierungswechsel in den USA zu tun? 
Haben etwa die von George Soros finanzierten NGOs Bedenken, vollends aufzufliegen? 
Haben die bislang angegriffenen Nicht-NATO-Länder endlich ein wirksames Druckmittel gefunden? 

Oder ist es nur die Ruhe vor dem Sturm? 

Glaskugel-Verschwörung 
Lediglich bei 2 Beiträgen wittere ich die üblichen volksverhöhnenden Framings, und zwar bei Frankreich und Israel. Der israelische Beitrag wird wegen etwas Gender-Gaga sogar als Sieger gehandelt, womit die (Kriegs-) Stimmung beim Länderwettbewerb ESC gerettet wäre. Italiens Beitrag hingegen würde sich bestens als Hymne für Ostermärsche eignen. Leider werden Ermal Meta und Fabrizio Moro nicht als Sieger gehandelt.

Die üblichen verdächtigen Nicht-NATO-Länder  
Russland und Aserbaidschan schicken dermaßen „unscheinbare“ Beiträge ins Rennen, dass ich befürchte, sie im Finale nicht mehr wieder zu sehen. Dass stattdessen Weissrussland etwas mehr Promotion macht als üblich, ist weniger dem Lied, sondern eher der Eitelkeit des Sängers geschuldet. Der Beitrag aus Serbien erfüllt auf nette Weise die Erwartungen. 

Der Song aus Georgien hingegen ist im ESC-Bezug musikalisch allererste Sahne. Ein Sieg wäre die Ansage, dass man auf einmal wieder Wert auf guten Gesang und Tradition legt. Soll das? 

Und wenn, wäre Estland mit einer russischstämmigen Sopranistin da nicht als ESC-Sieger geeigneter? 

Oder startet Russland dieses Jahr mit einem Song von Kirkorov gar verdeckt unter moldawischer Flagge? 

Auf jeden Fall könnte mit den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Moldawien oder Estland als Austragungsland in 2019 Russland wieder angegriffen werden
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die letzte Regeländerung in Juli 2017, die zwar kaum thematisiert aber sicherlich nicht ohne Grund vorgenommen wurde. Von der Ukraine noch dreist durchgezogen, wurde damit im Nachhinein legitimiert, dass Gastgeber Einreiseverbote erteilen dürfen, und das aufgrund irgendwelcher fadenscheiniger Gründe.


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Donnerstag, 22. März 2018

Band Iriao aus Georgien lässt mit ihrem ESC-Beitrag „For You“ die Seele baumeln

Georgien nimmt seit 2007 am Eurovision Song Contest teil, und mehr als 10 Jahre habe ich auf diesen Beitrag aus Georgien gewartet. Der Song „For You“ wirkt auf mich wie eine akustische Klangmassage. Ob Burn-Out-Prophylaxe oder gottesdienstliche Meditation, dieses Lied sorgt für Harmonie und Wohlbefinden. Dass es im Text um zwischenmenschliche Wärme geht, versteht sich von selbst. 

Die einzige Spannung um dieses Lied ist die Frage, ob in einem aufgemotzten ESC das plötzliche Innehalten aufatmend angenommen oder schlicht überhört wird. 

Iriao ist eine 8-köpfige Ethno-Jazz-Band, die sich 2013 in Tiflis gründete, eigentlich mit dem gleichen Ziel, wie die Gruppe The Shin, die bereits 2014 für Georgien starteten. Beide Bands möchten die georgische Folklore modernisieren, indem sie sie mit Anleihen aus dem Jazz verbinden. Konzentriert sich The Shin auf Instrumentalmusik, dominiert bei Iriao die Vokalmusik.

Iriao singt georgische Version von Beethoven's 9. Symphonie "Ode an die Freude"

Als also am 31.12.2017 die Nominierung der Band bekannt wurde war klar, dass Georgien uns Europäer auch dieses Jahr wieder mit georgischem Eigensinn konfrontiert. Das taten sie bereits 2014, als The Shin das ESC-Publikum und die Jury mit Ethnojazz gnadenlos überforderten. 2018 erleben wir georgischen Gesang, und dieser wird konsequenterweise zum ersten Mal in der Geschichte des ESC vollständig in Landessprache gesungen. Ich hoffe inständig, dass Georgien dieses Mal für seinen Mut zur eigenen Tradition besser belohnt wird als 2014. 

Georgischen Gesang 
erkenne ich an der einzigartigen Klangfarbe der Männerstimmen, die wahrscheinlich alle auch einen ähnlichen Oktavumfang haben. Diese singen in polyphoner Mehrstimmigkeit, in einer Technik also, die im Westen aus der alten Kirchenmusik (Giovanni Pierluigi da Palestrina) bekannt ist. Polyphon heisst, dass die Stimmen gleichberechtigt sind und gleich klingen, während in der westlichen Tradition unterschiedliche Stimmlagen z. B. mit Sopran, Alt, Tenor und Bass herausgearbeitet werden. 

Nach meiner Wahrnehmung wechselt die Polyphonie zwischendurch in die Homophonie, wenn nämlich die Begleitstimmen nur noch akkordisch funktionieren und dem Stück dadurch einen feierlich-hymnischen Charakter geben. Die einfache Melodie im Dur-Moll-System schwächt die Strenge der georgischen Tradition ab und passt sich unseren westlichen Hörgewohnheiten gut an. Eine Anpassung an die Popmusik wird mit durchgehender Untermalung durch Synthesizer, Percussions und Bass erreicht. 

In Lissabon werden von den 8 Bandmitgliedern nur 5 auf der Bühne zu sehen sein. Diese sind 

Mikheil Javakhishvili 
George Abashidze 
Bidzina Murghulia 
Shalva Ghelekva 
Levan Abshilava

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Samstag, 17. März 2018

Netta Barzilai aus Israel - Quoten-Frau im Militainment des Eurovison Song Contest?

Die Siegerin des diesjährigen ESC scheint seit dem 11.03.2018 bereits festzustehen: Es ist die 25 Jahre alte Netta Barzilai aus Israel mit dem Lied „Toy“. Sie überrascht mit ungewöhnlicher Stimmperformance, die an Hühnergegacker erinnert und mit der sie sich gleich zu Beginn des Liedes selbstironisch als Ulknudel präsentiert. 

Virtuos beherrscht sie ihr Loop Station und avanciert im 3-Minuten-Song mit einem Mix aus elektronischen Elementen, Popmelodien, HipHop-Sounds, Rap-Passagen und Zweisprachigkeit zur ESC-Rampensau.



Dass Netta nicht den Normen eines Super-Models entspricht, ist vielen sympathisch. Ob es – wie in zahlreichen Medien hervorgehoben wird - allerdings ihre Absicht ist, diese Normen zu hinterfragen, lasse ich dahingestellt. Sie tut es durch ihr Aussehen auch ohne Absicht, und das ist gut so. Und was den ESC betrifft: Die durch Körperfülle Präsenz zeigende Damen sind zwar in einer Heidi-Klum-Sendung unerwünscht, beim ESC erfreuen sie sich großer Beliebtheit wie Stars wie Joy Fleming, Hera Björk oder Vania Fernandes bewiesen.

Feministen-Hymne oder Etikettenschwindel? 
Nettas Lied wird in Medien als Feministen-Hymne bezeichnet. Schaue ich (mit meinem Background der 80er Jahre mit autonomen, selbstbestimmten Frauen- und Lesbenreferaten) genauer hin, komme ich zum gegenteiligen Ergebnis: Netta ist genau das, was sie vorgibt nicht sein zu wollen: Ein abhängiges Spielzeug des Mannes. Es gibt nämlich kaum einen Medienbericht, wo nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es Männer sind, die sich dieses Eurovisionskonzept ausgedacht haben. Der Artikel „Meet the gay composer of Netta's Toy, the song tipped to win Eurovision“ belegt dies bestens.

Feministische Kritik oder Spaßverderberei? 
Man mag meine Kritik als Haarspalterei zurückweisen und einwenden, dass es ja NUR Kommerz und NUR Eurovision Song Contest sei. Gegenfrage: 

Was wäre aus Conchita Wurst geworden, wenn 3 Frauen laut damit geworben hätten, dass sie sich eine provokative Kunstfigur für schwule Toleranz ausgedacht, dieser Figur den Namen Wurst verpasst, sie mit Bärtchen und Kleidchen ins ESC-Rennen und gegen Russland ins Feld gejagt hätten? Man kann mit Fug und Recht sagen: Nichts. Und die 3 Frauen wären wohl zu Per·so·nae non gra·tae erklärt worden. Daran, wie UNDENKBAR so etwas ist, sieht man, wie weit wir von der Emanzipation entfernt sind. Ist auch die Frage, ob Feministinnen solche Methoden und Kunstfiguren benötigen. 

Um meine kritische Haltung verständlicher zu machen, ein Blick zurück auf das Werk „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir, das früher unsere Bibel war. Dazu heißt es zusammengefasst auf Wikipedia, „dass Frauen von den Männern zum „Anderen Geschlecht“ gemacht worden seien. Dies bedeutet [...], dass sich der Mann als das Absolute, das Essentielle, das Subjekt setzt, während der Frau die Rolle der Anderen, des Objekts zugewiesen wird. Sie wird immer in Abhängigkeit vom Mann definiert. [...] Wenn sie ihrer „Weiblichkeit“ gerecht werden will, muss sie sich mit einer passiven Rolle begnügen.“ 

Der propagierte Feminismus im ESC-Konzept von Netta Barzilai ist also reiner Etikettenschwindel. Unter dem Gesichtspunkt der männlichen Vormachtstellung und seines Wunschdenkens bekommt Nettas Hühnergegacker und „ungenormtes“ Aussehen ein … Geschmäckle.

Aufgesprungen auf den #MeToo-Zug 
Das hat zusätzlich eine polarisierende Wirkung. Meiner Beobachtung nach ist es mit Emanzipation, Freiheit, Demokratie usw. vorbei, wenn sie von Medien und Mächtigen mit der Geste der "Fürsorge" der „kindlichen“ Bevölkerung aufgezwungen werden. 

Gab es bei den Emanzipationsbewegungen der 70er und 80er Jahre noch eine gemeinsame „linke“ Identität, werden heutzutage Homosexuelle, Feministinnen, Behinderte, Anti-Rassisten etc. auf nicht-diskursive körperbezogene Bedürfnisse reduziert, stets isoliert hervorgehoben und gerne als Opfer irgendwelcher Bösewichte (meistens Putin) hofiert. Als „betroffene“ Emotionsbündel aufgestachelt dienen sie Medien und Politikern als Spielball und Sprachrohr gleichermaßen. Eine sichere Methode, um in der Bevölkerung Verunsicherung und Zwietracht zu streuen und jede Form der Solidarität zu zerstören. 

Fazit: Netta und ihr Lied sind gut, aber das Konzept ist genauso mies wie beim französischen Beitrag.


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Samstag, 18. November 2017

Mit metrischen Fans deutsche Troll-Fabrik à la Putin für die Eurovision?

Habe mir am 10.11.2017 in Berlin die ESC-Road-Show angesehen, bei der Thomas Schreiber (ARD Koordinator Unter-haltung), Christoph Pellander (NDR/Head of Delegation) und Daniel Korany (Simon-Kucher & Partners) mithilfe einer Präsentation und eines Kurzfilms das neue Verfahren beim ESC Vorentscheid 2018 erklärten. Man setzt dabei vor allem auf die Leistungen von Mass-Calling-Unternehmen, Datenanalysefirmen und Telekommunikationsindustrie.  

Bei Formulierung meiner provokativen Überschrift bemerke ich, dass ich hadere, etwas Kritisches zu schreiben, wenn ich statt Texte zu lesen die Menschen leibhaftig während der Präsentation ihrer Konzepte erlebt habe. Zum einen war die Atmosphäre in der schönen Dachlounge des rbb ausgesprochen angenehm. Auch Sympathie und Empathie schlichen sich ein. Wer wollte dem NDR nach Jahren der Niederlagen nicht mal wieder einen Erfolg gönnen? Aber dann kommt mir in den Sinn, ob die freiwillige Zurücknahme von Kritik nicht auch wieder Kalkül ist… Vor allem, wenn man mit einem Top-Down-Konzept überrumpelt wird, bei dem es um Einbindung von gecasteten Fans in fest reglementierte Prozeduren geht, welche mit Nähe zu Stars und Organisatoren und wahrscheinlich viel kumpelhaftem Geduze Abgrenzung erschwert und emotionale Ausbeutung begünstigt. 

Betroffenes und engagiertes Grübeln 
Eins ist klar: Vor 25 Jahren wäre diese Veranstaltung in der rbb-Bar ein amüsantes Erlebnis geworden, in der Schwule gewitzelt und gelästert und Transvestiten sich besonders ausgefallen präsentiert hätten. Wahrscheinlich wäre sogar Musik erklungen. 

2017 fanden sich ca. 15 ernsthaft interessierte und skeptische Fans zusammen, die als Eurovisionswächter, Musikpolizisten und Toleranz-Blockwarte angesprochen wurden. 

Zusätzlich waren ca. 35 zufällig anwesende Bar-Gäste in der Dachlounge. Als ich die Irritation in deren Gesichtern sah, taten mir die Eurovisionsmänner fast leid. Sie sortierten, werteten und besprachen ihre jahrelang gesammelten trockenen Datenmengen zum Telefonvoting, Juryvoting, zu Ratings und Rankings, nur um zu erklären, wie eine Abstimmung organisiert werden muss, damit ein ESC-Sänger und ein 3-Minuten-Pillepalle-Musikstück ermittelt werden, mit denen man beim ESC 12 Punkte bekommt. Ein ahnungsloser Gast fragte mich schließlich kurz vor Schluss: 

Ist das hier eine Betriebsversammlung? 
Eine Betriebsversammlung, bei der betriebsfremde Menschen in ihrer Eigenschaft als Homosexuelle und in ihrem Hobby Eurovision angesprochen werden, damit sie sich für Belange von privater EBU, Rundfunk, Datananalysefirmen, Musik- und Telekommunikationsindustrie engagieren. Von 15000 Bewerbern will die Datenanalysefirma durch intensives Auswahlverfahren 100 Fans ermitteln. Oder muss ich schreiben „zurück gewinnen“? Neben ahnungslosen Nachwuchs-Fans eben auch jene echten ESC-Fans, die man seit 1998 mit schadenfreudigen Polarisierungs-Strategien und Zensur verprellt hat? 

Die 100 ausgewählten Fans werden nicht nur online abstimmen, sondern müssen zu gegebener Zeit auch Vor-Ort-Termine wahrnehmen. Die Reisekosten sollen - glaube ich - erstattet werden, aber von Verdienstausfällen oder Vergütungen wurde nicht gesprochen, womit ich wieder bei der emotionalen Ausbeutung wäre… Und ich gehe davon aus, dass diese 100 auch im Social Media die Werbetrommel rühren werden, und das nicht mit Accounts von NDR, Digame oder Telekom.

Im Gegensatz zu vorangegangenen Meldungen sollen diese 100 ausschließlich Deutsche sein, nun mit der Begründung, dass das deutsche Televotingergebnis fast deckungsgleich mit dem europäischen Endergebnis ist. Nanu! Im krassen Gegensatz zur Abstimmung bei der deutschen Vorentscheidung, wo sie ständig „falsch“ wählen und verlieren, wählen Deutsche also beim ESC repräsentativ? Einen besseren Beleg für die Unsinnigkeit des neuen Konzeptes hätte der NDR nicht bringen können. 

Solange die Qualität der Auswahl gedrosselt wird, hat der Wähler keine Chance 
Ich befürchte, dass das den auserwählten Teilnehmern vor lauter Euphorie egal wird. Wer überhaupt an solche Abstimmungsmarathone interessiert ist, wird sich ohnehin kaum ein Lied länger als 15 Sekunden anhören. Bei manchen wird es sogar egal sein, ob über Automarken, Steichelzoo oder Musik abgestimmt wird. 

Dass mir bei diesem Top-Down-Konzept schließlich die Bezeichnung “Putin‘s Trollfabrik“ einfiel, war auch der Tatsache geschuldet, dass man selbst bei diesem Zusammentreffen ohne Seitenhiebe auf Russland nicht auskam.

Widersprüche und Kritisches zum neuen Konzept 

Viele Länder entziehen sich der Abstimmung 
Beklagt wurde, dass es europaweit zu wenige Anrufer gibt, so dass die Abstimmungen in vielen Ländern nicht als repräsentativ herangezogen werden können. Mit der Feststellung, dass sich die Teilnahme am Telefonvoting überwiegend auf die westeuropäischen Kernländer der Eurovision beschränkt, wurde immerhin (m)eine Verschwörungstheorie zur Realität erklärt: Dass nämlich seit einigen Jahren die Anrufe aller Länder addiert werden, hat nichts mit Spannungsaufbau, sondern ausschließlich mit mangelndem Interesse zu tun.  

Gründe sieht man darin, dass in vielen Ländern das Telefonvoting nicht sehr verbreitet und darüber hinaus sehr teuer ist. Damit wird aber unterschlagen, dass viele westeuropäische Telefonvoter nur mit Gewinnen von Geld, Autos, iPhones, Reisen etc. ans Telefon gelockt werden. Zudem unterschied man zwischen Interesse am ESC und am Telefonvoting, was aber nicht weiter belegt wurde. Es könnte sich ja auch um ein generelles Desinteresse handeln. 

Was sagen die Digame-Statistiken über europäische Telefonvoter aus? 
Der Kern bestehe aus „jungen, Party-affinen, homosexuellen, toleranten Menschen“. Bissig formuliert wäre das nun also die betrogene Gruppe, die lt. Medien von den erfolgreichen russischen, türkischen, slawischen oder armenischen Diasporas jahrelang überstimmt und „beschissen“ wurde. 

Das Adjektiv tolerant wurde erstmals 2013 in Bezug zu sexuellen Vorlieben und Aussehen von Conchita Wurst strapaziert und weist darauf hin, dass eben nicht nur Musikgeschmack, sondern tatsächlich Einstellungen und Verhalten gemessen bzw. konditioniert werden. Konditionierung zum einen, indem die Kunstfigur Wurst schon seit Jahren in einem Negativbezug zu Russland gesetzt wird. Konditionierung findet auch im Unausgesprochenen statt: Die Eigenschaft der Toleranz wird positiv besetzt und impliziert, dass die Masse der europäischen Anrufverweigerer einer nicht akzeptablen Intoleranz zugeordnet wird. 

Mit Worthülsen wird den deutschen Homosexuellen und rechten LGBT ein hegemonialer Habitus antrainiert 
2016 wurde Europa belehrt, dass „Toleranz“ aus humanistischer Sicht schnell zum Etikettenschwindel werden kann. Es gewann nämlich nicht der „tolerant angeschwulte“ Beitrag aus Russland, sondern ein schwerfälliges Lied über Stalin eines ukrainischen Schreihalses. Hier demonstrierten die Juroren größtmögliche Toleranz gegenüber inhumane militärische Anliegen der NATO und Intoleranz gegenüber Russlands Interessen. 

Auch Putinphobie wurde während der Präsentation gepflegt, z. B. als es um die Begründung zur Beliebtheit von Conchita Wurst im intoleranten, homophoben Russland ging. Von russischen Telefonvotern wurde sie 2014 auf den 1. Platz und von russischen Juroren auf immerhin den 2. Platz gesetzt. Erklärung: Es handele sich um Anrufer aus den Ballungsgebieten Moskau und St. Petersburg, und diese Städte repräsentieren nicht „Putins Russland“. Ist das so? Oder biegt man sich für Abstimmungsfakes nur passende Erklärungen zurecht? 

Wie Ratten im Versuchslabor 
Für Verhaltensforscher sicherlich interessant zu untersuchen, unter welchen Bedingungen sich Menschen immer bereitwilliger beliebige und unglaubwürdige Abstimmungen und PR-Märchen nicht nur schön reden, sondern auch noch vehement gegen „Intolerante“, „Ungläubige“ und „Verschwörungstheoretiker“ verteidigen, ohne auch nur einen einzigen Beleg für die Korrektheit der Zahlen vorweisen zu können. 

Das schlechte Abschneiden Deutschlands der letzten Jahre  
erklärte Thomas Schreiber damit, dass die Musikindustrie falsch vorbestimmt hätte, dass er in Gremien überstimmt worden war, dass Mitarbeiter nicht umgestimmt werden konnten, dass eine anonyme Öffentlichkeit verstimmt gewesen sei, dass Komponisten ihm nicht zugestimmt hätten, dass das Publikum falsch abgestimmt hätte… Eine überzeugende Ausgangsposition für nun noch mehr Abstimmungen bot er damit nicht. 

Und solange es keine Transparenz darüber gibt, wer über wen und was in den Hinterstuben der Rundfunkhäuser und Datenanalysefirmen bestimmt, traue ich den Konzepten und Statistiken auch weiterhin nicht.


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