Dienstag, 22. Dezember 2015

Ein anderer Eurovision Song Contest ist möglich

Großartiges will der nächste Ausrichter des ESC, die Rundfunkanstalt SVT in Schweden, mal wieder verändern. Angekündigt ist eine Optimierung der Spannung bei Durchgabe der Votings und noch mehr Polarisierung durch Hofierung der umstrittenen Big-5-NATO-Länder Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien. Umstritten deswegen, weil sie sich einen Startplatz im Finale kaufen, und somit gar nicht richtig am Wettbewerb teilnehmen aber dafür um so mehr auf Einhaltung der Regeln achten. Auch NATO-Land Australien soll 'entgegen alle Regeln' wieder dabei sein. Begründet werden Veränderungen – wie sollte es anders sein – mit dem Budget. Alles soll größer und billiger. Quantität vor Qualität.


Haben die Europäer überhaupt noch etwas zu entscheiden? 
Ihre Entscheidungen im Rahmen der Eurovision machen für Europa keinen Sinn mehr. Sobald sich Länder aus finanziellen Gründen und mangels Publikumsinteresse abmelden, reagiert die EBU reflexartig mit finanziellen Geschenken oder einer Umfrage mit dem Ziel „to make Eurovision 'even greater'“. Warum? Wer will sich noch 30 gleichförmige 3-Minuten-Songs nacheinander anhören? Und dass die Compilation mit den ca 45 Songs kaum noch Käufer findet, ist auch kein Geheimnis mehr. 

In mittlerweile 61 Jahren unterlag der ESC immer wieder Veränderungen, meiner Meinung nach wäre mal wieder ein echter Relaunch fällig. Meine Vorschläge vorweg: 

  • Weniger Teilnehmer pro Jahr und dafür wieder mehr Feierlichkeit und Wertsteigerung der musikalischen Darbietung mit - zumindest als Option - einem Live-Orchester.
  • Warum nicht jedes Jahr nach Art der Darbietung oder Abstimmung gleich mehrere Preise verleihen wie z. B. bei der Berlinale? 
  • Hinweg mit der Verpflichtung des Siegers, im Folgejahr den Contest auszurichten. Das hindert nämlich die meisten Länder daran, ihr Bestes zu geben. Warum nicht einen Ort für die Ausrichtung festlegen? Man könnte doch mal den Glamour-Fürstenstaat Monaco fragen.
  • Da der ESC von Europäern finanziert wird, sollte im ursprünglichen Sinne eines europäischen Gedankens der europäische Musikmarkt mit kleineren Musiklabel oder vertragslosen Musikern gefördert werden. Es ist nicht einzusehen, dass bei dem einzigen europäischen Musikwettbewerb nur amerikanische Konzerne die Gangart vorschreiben und profitieren. 

Die Vorteile der großen Shows 
sollen nicht unerwähnt bleiben: Sie sind sensationell und haben sehr zur Beliebtheit beigetragen. Viele Shows können mir noch heute Gänsehaut verursachen wenn ich mich nur daran erinnere, sogar live dabei gewesen zu sein. Nur kann ich mir nach Moskau 2009, Baku 2012 und Wien 2015 keine wünschenswerte Steigerung vorstellen. 

Begründung für einen Relaunch des ESC

Die letzten großen Veränderungen wurden 1998 vorgenommen. Bei möglichst hoher Teilnehmerzahl gibt es nun mehrere Massenshows mit Publikumsbeteiligung (Telefonvoting) und jedes Jahr eine Compilation von Universal. Ich habe es als Verlust empfunden, dass dafür die Sprachenregelung zugunsten des Englischen und das Begleitorchester abgeschafft wurden und die Interpreten seitdem Halb-Playback singen.

Irgendwann wird auch die sensationellste Ausrichtung langweilig. Ich habe mir 4 ESC live angesehen, es wiederholt sich. Nichts spräche dagegen, den Contest wieder etwas kleiner und feiner aufzuziehen. Dadurch würden sogar die Proben interessanter werden, denn Orchesterproben sind schöner als technische Soundchecks. 

Je mehr Teilnehmer, desto mehr Verlierer 
Dass bei steigender Anzahl Teilnehmer noch stets nur ein Preis verliehen wird, ist lieblos und dient einer irren Glücksideologie und einem politischen Kalkül. Bei den Siegern gibt es meist keinen nachvollziehbaren kausalen Zusammenhang zwischen Leistung und Erfolg. Selbstbestimmten Profis hingegen wird damit das Geschäft vermasselt, auf dass das Publikum doch auf Rankings, Ratings und Awards hereinfalle und die „eindeutigen“ Sieger-Produkte der Musikindustrie kaufen möge...

Besser noch als die Siege sind die Niederlagen mittlerweile vorhersehbar. So ahnte ich 2013, dass es die Profimusiker aus Bulgarien, Mazedonien und Kroatien, die sich alle einer europäischen Musiktradition verpflichtet fühlen, nicht ins Finale schaffen würden und widmete mich ihnen besonders. 

Noch liebloser das Verfahren, WIE der Sieger ermittelt wird. Schon die Verrechnung der Stimmen ist unredlich. Dass eine „Experten“-Jury nicht mal zwischen Komposition, musikalischer Darbietung und Performance zu unterscheiden hat, ist laienhaft. Die Jury dient ohnehin nur rechnerischen Zwecken: Die Nähe ihrer Mitglieder zu den Label, die Offenlegung ihrer Namen Wochen vorher sowie die irrsinnige Verpflichtung alle (ca. 40) Songs zu bewerten sieht nicht nach musikalischer Kompetenz, sondern eher nach nach Manipulation, Druck und Kontrolle aus. EINEN Siegersong kann man auch einfacher ermitteln. Mit diesem System kann man aber flächendeckend, wohlkalkuliert und in PR-Texten und Unternehmens-gebundenen Fanblogs breit ausformuliert ca. 40 künstliche Niederlagen erzeugen. 

„Es kommt nur auf den Song an!“ 
Zur Erinnerung: Bis 1998 wurden in der Anmoderation den Komponisten und Autoren besondere Andacht geschenkt. Der Dirigent verbeugte sich und dann traten die Interpreten mit Orchesterbegleitung zu technisch relativ gleichen Bedingungen an. Ein Highlight der TV-Geschichte, wenn die einmaligen Live-Auftritte die Studioversion musikalisch weit überragten, wie beispielsweise im Falle Frida Boccara 1969 mit "Un jour, un enfant"

Seit der Abschaffung des Orchesters moderiert in der Regel der Kommentator aus dem Off die Musiker an, weitere Infos werden eingeblendet. Dann folgt der Halb-Play-Back-Act, der vor allem mit Showelementen wie Bühnenrequisiten, Tanzeinlagen, Lichteffekten, Kostümen und Koketterien zu überzeugen versucht. Rhetorische Frage: 

Kommt es wirklich auf den Song an? 
20 Jahre Castingshows mit Coverversionen und Hit-Recycling, mittlerweile auch als Vorentscheidung zum ESC... Eine Ideenschmiede für „den Song, auf den es ankommt“, stelle ich mir anders vor. Mit Wettbewerbshype, Ratings, Rankings und Awards als Vermarktungsstrategie werden vielmehr ranzige Geschäftsmodelle und sinnlose Starprofile wie in einer Art Biomasseanlage immer wieder aufs Neue veredelt. Das schwedische Vorentscheidungskonzept toppt alles: Ihre Melodifestivalen laufen mit unfassbar vielen Vorrunden fast das ganze Jahr flächendeckend in allen schwedischen Städten – am Ende klingt alles nach Abba. 

Was die übrigen ESC-Produkte betrifft, kann kein amerikanisches Genre ausgelutscht genug sein, um nicht beim ESC noch als Ausdruck von Fortschrittlichkeit verkauft zu werden. Dies alles zum Nachteil europäischer Musiktraditionen, zum Nachteil eines europäischen Musikmarktes und seiner Profis (Komponisten, Autoren, Interpreten). 

Das Regelwerk zum ESC gibt keine Vorgabe, das Wort Musik kommt nicht mal vor. Es werden ein paar formale Kriterien genannt, sonst widmet es sich ausschließlich dem Votingprocedere. Interessenschwerpunkt der EBU-Reference-Group gilt ausschließlich dem Wettbewerbshype um den einen Song. 

Es ist seit 2004 kein Geheimnis mehr, dass der ESC auch verdeckt militärischen Zwecken dient 
Beim ESC wird der Wettbewerbshype um Sieger und Verlierer, um Gralshüter und Regelbrecher auf internationalem Niveau geradezu zur Kriegsstrategie instrumentalisiert. Support erhalten sie von Anti-Musik-Fans, bei denen es um alles geht, nur nicht um Musik. Oder will jemand ernsthaft behaupten, bei Propagandamaschinen à la Conchita Wurst und den nörgelnden Forderungen nach Schwulenemanzipation oder Liberalisierung des aserbaidschanischen und russischen Gasmarktes "komme es nur auf den Song an"? 

Bezüglich dieses Missbrauchs würde mich interessieren, wie die Mayor Label aufgestellt sind und ob sie gar mit Militär und Rüstungsindustrie kooperieren, so wie z. B. Hollywood. 

Was haben die USA und Australien beim ESC verloren? 
TV-Shows mit dubiosen Abstimmungsorgien und One-Hit-Wonder zerstören Qualität und Maßstab für Leistung und Erfolg und ebnen Hochstaplern den Weg, mit denen man langfristig nicht konkurrenzfähig sein wird. Superstars à la Lena und Conchita dienten in den USA bislang bestenfalls als Foto-Fratzen für europäische Skurrilitäten, die amerikanische Songs singen müssen, weil sie selber nichts auf die Reihe kriegen. 

Wenn es denn nur auf den 3-Minuten-Song ankommen soll, sollten die Lieder aus den europäischen Teilnehmerländern kommen. Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sollten verpflichtet werden, zumindest EINMAL im Jahr den kleineren europäischen Label und/oder Musikern ohne Vertrag eine Chance zu geben. Das setzt allerdings voraus, dass diese einen Anspruch geltend machen. 

Auch die Möglichkeiten des Internets im Musikbusiness könnten ausgebaut werden (Stichwort Crowdfunding), zugunsten einer engeren Bindung zwischen Musiker und ihren Fans. Spätestens dann dürfte klar werden, dass es wahren Musifans eben nicht nur „auf den einen Song ankommt.“ Es geht auch um Glaubwürdigkeit, Fairness, Haltung und Verantwortung. Eigenschaften, die in einem Wettbewerb eigentlich Voraussetzung wären.


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