Dienstag, 31. März 2015

Elina Born und Stig Rästa aus Estland beim Eurovision Song Contest 2015

8 mal hat Stig an der estnischen Vorentscheidung teilgenommen. Das 8. Mal sollte sein letzter Versuch sein. Ob dies in Estland als Drohung verstanden wurde, weiss ich nicht, aber immerhin ließ man ihn diesmal die Vorentscheidung gewinnen. Haushoch und zu Recht.

Angetreten für den ESC ist der 1980 geborene Stig Rästa seit 2003 in diversen Formationen, stets als Gitarrist und Backgroundsänger, aber auch als Leadsänger der Bands Slobodan River, Traffic und Outloudz. Außerhalb des ESC hat er sich für die Musikszene seines Heimatlandes schon mit einigen Nummer 1 Hits verdient gemacht.

Für 2015 hat er die Zügel an sich gerissen und sich mit der 2012 auf youtube gefundenen Duettpartnerin Elina Born zusammen getan. Für sie hat er schon Stücke geschrieben und produziert, mit der auch sie als Solistin 2013 beim estnischen Vorentscheid angetreten ist. Beim ESC in Wien werden sie gemeinsam singen

„Goodbye To Yesterday“
Vonwegen Goodbye. Der Titel steht im Widerspruch zur Musik, denn das Lied hört sich sehr nach yesterday und 60er Jahre an. Ich fühle mich spontan an Nancy Sinatra und Lee Hazlewood erinnert, nur dass diese die Töne besser trafen. Aber was macht das schon? Stig Rästas tiefe Männerstimme macht ihn in der Popmusik und vor allem beim ESC zu was Besonderem. Und Elina bringt mit ihrem Gesangspart so viel Dramatik ins Spiel, dass man auch ohne Text ahnt, worum es im Lied geht: Er will sich davonstehlen und sie versucht verzweifelt ihn zu einem Neuanfang zu überreden.


Weniger ist mehr
Noch stimmiger wird es, wenn ich mir Elina Born & Stig Rästa bei der Vorentscheidung auf der Bühne anschaue. Die schwarz-weiß-Kamera wirkt – genau wie ihr Genre - wie ein ironischer Bruch mit dem Liedtitel und betont zugleich die Tristesse des Abschieds. Minimale Andeutungen in Gestik und Mimik harmonieren mit dem Liedinhalt und machen aus einer offensichtlich verwässerten Beziehungskiste einen konzentrierten 3-Minuten-Bonbon. Wenn sie Auftritt und Outfit so belassen und sich nicht noch den optischen Zwängen des aufgebrezelten ESC beugen, finde ich es cool. 12 points.




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Mittwoch, 25. März 2015

Prinz William glaubt an den britischen Beitrag von Electro Velvet

... und das wahrscheinlich weniger aus Überzeugung, sondern aus Mitleid. Während andere Länder ihre SängerInnen und Songs als die Neuerfindung der Popmusik und Bereicherung der Nation promoten, erleben die britischen Teilnehmer gerade das Gegenteil. Seitdem ein anonymes Komitee der BBC am 07.03.2015 um 22:25 Uhr im TV das Duo Electro Velvet mit dem Song „Still In Love With You“ als britischen ESC-Beitrag bekannt gab, sind britische Presse und ESC-Fans „not amused“.

The Guardian: “[The BBC] is the reason why we're going to collectively hide our faces behind a pillow come May, and they deserve to be punished.“ Die Lösung: „Allowing us some form of control over our entry is the only way to stop terrible mistakes like this from ever happening again“.

Zum Song: „It sounds like a nightmarisch effort to fuse the DNA of Cotton Eye Joe, the 1994 song Doop by Doop and the collected works of Scatman John into a monstrous new form“.
The Telegraph fügt hinzu: „The opening lines say it all, really: 'Don't get on the wrong train / Don't fly on an old plane'.This is the wrong train, and it left the station 90 years ago.”

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Die Sänger werden charakterisiert als „jobbing performers with an upsetting lack of taste“. Weiter: „They surely will have some fun in the Eurovision spotlight but they would be well advised not to give up their day jobs.”

Zum Komponisten: „David Mindel has a career composing advertising jingle but I can't believe any of his professional clients would have accepted something quite this shoddy. The genre is described by the BBC as electro swing, which apparantly means swing recreated with cheap digital instrumentation instead of a big band. […]The novelty value [of Mindel's song] being that the format is so ancient some kids might actually think it's something new.

Wie viel Schmerz und Frustration die Rundfunkanstalten alljährlich den ESC-Kids zuzufügen in der Lage sind, zeigt das Video eines jungen ESC-Fans, der mit der Internetgemeinde über youtube die Bekanntgabe des britischen ESC-Beitrags feiern wollte und am Schluss in schiere Verzweiflung fällt.

Offensichtlich wissen die britischen Journalisten nichts von David Mindel‘s Eurovisions-Experimenten. Bei der britischen Vorentscheidung „A Song For Europe“ 1974 machte er den letzten Platz. Weitere Versuche in 1977 und 1982 blieben erfolglos.

So viel vernichtende Kritik macht den Beitrag schon wieder sympathisch
Ich gehe davon aus, dass die beiden Sänger technisch nicht schlechter sind als die von der Musikindustrie künstlich aufgebrezelten Eurovisionssieger. Der Unterschied ist, dass bei diesen Interpreten keine Informationen gesteuert und keine Märchen kreiert werden. Diese Ehrlichkeit ist begrüßenswert. An diesem Team sieht man, wie schwer es einfache Musiker in Wirklichkeit haben.

Sollte der Komponist David Mindel mit Musik sein Leben bestreiten, darf er bei bei den Aufträgen nicht wählerisch sein. Der Sänger Alex Larke ist Musiklehrer an der Grundschule, hat sich in mehreren Genres versucht und fand seine Bestimmung als Mick-Jagger-Kopie bei The Rollin‘ Clones, einer Rolling-Stones-Coverband. 

Bianca Nicholas nahm – leider erfolglos – an „The Voice“ teil. Dafür hat Bianca immerhin den Support von Prinz William, der sie bei einem Charity-Konzert kennenlernte. Bianca leidet nämlich an Mukoviszidose. Was für eine mutige Entscheidung, mit dieser Krankheit vor einem 200 Millionen Publikum live zu singen!

Electro Velvet ist ein reines Eurovisions-Projekt, das nicht viel zu verlieren hat. Für das Team dürfte schon der Musik-Clip ein Erfolg bedeuten, dessen Aufwand sie sich ohne die Unterstützung der BBC wahrscheinlich nicht hätten leisten können. Die Kritik ficht sie nicht an.
„We really are the Mick and Bianca Jagger of Eurovision,“ verkünden sie im Daily Star.


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Sonntag, 8. März 2015

USFÖ - same procedure as every year

Konzept, Ablauf, Protagonisten, Ergebnis mit Abzocke und „Überraschungssieger“ wie jedes Jahr. Also erlaube auch ich mir mich zu wiederholen: 

Wozu sich anstrengen? Solange sich der NDR einen Startplatz im Finale KAUFEN kann? Das wird zwar als Großzügigkeit kommuniziert, im Grunde bezahlt der Gebühren- und Steuerzahler, dass der NDR die deutsche Misere der Popszene befestigt und auf Europa überträgt. Was dem Telefonvoter als Wettbewerb verkauft wurde war auch diesmal im Grunde wieder ein
 
Universal Music gegen Universal Music gegen Universal Music...
Die Show lieferte ein weiteres Mal den Beweis, dass die Diktatur der Mayor Label und der Rankings einen krankhaften Konformismus erzeugt und das Gesamtniveau nach unten drückt. Das Siegerlied ist wieder die übliche Anbiederei an abgedroschene US-Stile und Ann Sophie sieht aus wie Lena Meyer-Landrut. Die werden offensichtlich geklont.


Wo es keine Konkurrenz gibt, gibt es auch keine Kontrollen mehr
Da kann man die Teilnehmer beliebig austauschen, egal ob vor oder nach der Abstimmung. Und das wurde dann auch gemacht. Ob sich ein Andreas Kümmert mit einem anderen Label wohl so einfach die Butter hätte vom Brot nehmen lassen dürfen? Hätte er beispielsweise ein Lied von Ralph Siegel gesungen, hätte jedenfalls ein Profi zu Recht darauf hingewiesen, dass der ESC ein Songwettbewerb und kein Interpretenwettbewerb ist, auf den Sieg seines Liedes bestanden, Kümmert gut zugeredet oder ggf. einen anderen Interpreten gesucht. Ralph Siegel ist bislang auch der einzige, der die Telefonabzocke bei dieser ARD-Show kritisiert.


Da es gar keinen Wettbewerb gab, konnte die unbefugte Moderatorin Schöneberger kurzerhand veranlassen, die Teilnehmer auszutauschen. Ich teile die Zweifel der Schweizer Nachrichten: „Im ganzen Tohuwabohu übergab [Barbara Schöneberger] ihm ein wenig zu schnell das Mikrofon, um seinen Verzicht zu verkünden. […] War das ganze etwa inszeniert und vorher gar abgesprochen? […] Spontan und ohne lange zu zögern wurde der Entscheid gefällt, dass die eigentlich Zweitplatzierte im Mai nach Wien fahren wird.“

Deutsche Leidkultur
Andreas Kümmert hat mit angeblich 78,7 % der Stimmen gewonnen und dann seinen Sieg seiner Konkurrentin überlassen, für die nur 21,3 % angerufen haben. Anstatt dies angemessen zu begründen spricht er von psychischer Überforderung und Unwürdigkeit und beschämt sich und das Publikum, das für ihn gevotet hat.


Und dabei sieht ausgerechnet er mal nicht aus wie ein Klon. Aus der Tatsache, dass sich die ahnungslosen Musiker mit auffallend schwachen Liedern in dieses Business begeben, schließe ich, dass sie schlecht beraten, wenn nicht sogar unterschwellig gezwungen werden. Vielleicht war Kümmerts Erfolg zwar einkalkuliert, sollte aber nicht konsequent umgesetzt werden. 

Machen wir uns nichts vor: Er hat sich wie viele andere in Deutschland eben nicht in die richtige Wiege gelegt, kann nicht auf anglo-amerikanische Herkunft oder Verwandte im Kanzleramt verweisen, und darf deswegen nicht die geringste Unterstützung erwarten. Siggi Schullers (Universal) Rat an Kümmert in der Berliner Zeitung bringt die Rangordnung auf den Punkt: „Geh zwei Wochen in den Wald und schreib neue Songs.“

Die deutschen Eurovisionssieger sind schon seit Jahren nur noch ein Fall für den Verbraucherschutz
Aber auch der Verbraucherschutz scheint in den Gremien des Öffentlich-Rechtlichen keine Stimme mehr zu haben. Dass das Publikum um seine Telefongebühren geprellt wurde, ist egal, Hauptsache die Konzerne haben sich wieder untereinander bedient. Auch von den Medien ist keine Unterstützung zu erwarten. Berechtigte Kritik wird in der Berliner Zeitung wie folgt verzerrt: „Noch gibt es niemanden, der [den Betrogenen] widersprechen mag, offenbar ist ein solch spektakulärer Ausgang beim Wettbewerb – weder national noch international – überhaupt vorgesehen. Auch aus der inzwischen 60-jährigen Festivalgeschichte ist kein vergleichbarer Vorfall bekannt geworden, also nichts, woran man sich orientieren könnte.“ 


Nichts, woran man sich orientieren könnte…? Wirklich nicht? Wie wäre es mit Fairness, Gerechtigkeit, Wettbewerb, Wahlen, Vielfalt, Transparenz...?


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Eurovision Song Contest 2015 – Finnische Band PKN schockt mit Punk-Syndrom

Finnland wird uns beim nächsten ESC mehrere Debüts bescheren. Wir werden mit 1 1/2 Minuten das kürzeste Lied hören, dass jemals beim ESC präsentiert wurde. Wir werden zum ersten mal knallharten Punk hören. Wir werden zum ersten Mal Interpreten mit Down-Syndrom auf der Bühne erleben. Wer Lordi seinerzeit als Provokation empfunden hat, dem dürfte es bei der Band PKN und ihrem Song "Aina mun pitää" (I always have to) die Sprache verschlagen

Nachdem ich mich auf diversen ESC-Portalen umgesehen habe kann ich sagen, dass es jede Menge sprachloser Fans gibt, und ich gehörte dazu. Wer nicht durch nahestehende Personen oder professionell mit behinderten Menschen zu tun hat, ist zunächst ratlos, wie dieser ESC-Beitrag einzuordnen ist. Aber die Tatsache, dass diese Band mich überhaupt zum Innehalten zwingt, kann nicht verkehrt sein. Und so befragte ich google nach dieser Band.

In der finnischen Vorentscheidung am 28.02.2015 haben sie sich gegen viele gute und originelle Musiker und Musikstücke durchgesetzt. Schließlich ist die Band in Finnland nicht unbekannt. PKN steht für Pertti Kurikan Nimipäivät (Pertti Kurikkas Namenstag) und der 1956 in Finnland geborene Pertti Kurikka ist Kopf und Songschreiber der Band und spielt Gitarre. Als Autor hat er bereits 2011 eine Reihe Gruselgeschichten veröffentlicht. Auch tritt er als eine Art Drakula auf. Seine Kunst ist direkt, sie dreht sich meist um Alltagsfrust und Höhen und Tiefen des Zusammenlebens.

Sänger der Band ist Kari Aalto, am Schlagzeug spielt Toni Välitalo, den Bass spielt Sami Helle. Da Sami schon in den USA und Frankreich gelebt hat, übernimmt er schon mal die Rolle des Übersetzers für die Band bei Interviews. Hier ein Interview der BBC mit Sami Helle.

Auf youtube findet man eine Menge Clips von ihnen, u. a. eine 1 1/2 stündige Dokumentation aus 2012, diese leider nur in finnischer Sprache. Sie können bereits eine Karriere mit vielen Live-Auftritten und Touren durch Europa vorweisen. Sie haben bereits EPs und 2012 ein Album mit dem Titel "Kuus kuppia kahvia ja yks kokis" veröffentlicht. 

Nach Conchita Wurst werden dieses Jahr PKN die Grenzen der Toleranz herausfordern
Bei einigen haben sie bereits jetzt schon die Toleranzschwelle überschritten, deren Kritik kommt aber als Besorgnis daher, z. B. dass hier die Behinderten zum Auslachen vorgeführt werden. Dreiste Gegenfrage: Werden die anderen das nicht auch?


Ich mag ihren Punksong. Er ist mir mit 1 1/2 Minuten eher etwas zu kurz. In der Dokumentation hört man, dass sie auch melodischere und eingängigere Stücke spielen. Dass sie sich beim ESC für die aggressiveren Töne entschieden haben, ist vielleicht kein Zufall. Der Kontrast zwischen die auf Perfektion getrimmte und in beinahe narzistischer Selbstbespiegelung verharrende ESC-Welt zum ehrlichen und direkten Punk von PKN könnte krasser nicht sein. Das erzeugt automatisch ein Schmunzeln.

Ich würde es gut finden, wenn beim Finale in Wien Conchita Wurst den Siegerpokal an PKN überreicht.

Der Text ihres Songs:

I always have to clean
I always have to do the dishes
I always have to work
I always have to go to the doctor

I am not allowed to go to the computer
I am not allowed to watch television
I am not allowed to see my friends

I always have to be at home
I always have to do chores
I always have to eat well
I always have to drink well

I can’t eat candy, drink soda,
I can’t even drink alcohol

I always have to rest
I always have to sleep
I always have to wake up
I always have to shower