Samstag, 18. November 2017

Mit metrischen Fans deutsche Troll-Fabrik à la Putin für die Eurovision?

Habe mir am 10.11.2017 in Berlin die ESC-Road-Show angesehen, bei der Thomas Schreiber (ARD Koordinator Unter-haltung), Christoph Pellander (NDR/Head of Delegation) und Daniel Korany (Simon-Kucher & Partners) mithilfe einer Präsentation und eines Kurzfilms das neue Verfahren beim ESC Vorentscheid 2018 erklärten. Man setzt dabei vor allem auf die Leistungen von Mass-Calling-Unternehmen, Datenanalysefirmen und Telekommunikationsindustrie.  

Bei Formulierung meiner provokativen Überschrift bemerke ich, dass ich hadere, etwas Kritisches zu schreiben, wenn ich statt Texte zu lesen die Menschen leibhaftig während der Präsentation ihrer Konzepte erlebt habe. Zum einen war die Atmosphäre in der schönen Dachlounge des rbb ausgesprochen angenehm. Auch Sympathie und Empathie schlichen sich ein. Wer wollte dem NDR nach Jahren der Niederlagen nicht mal wieder einen Erfolg gönnen? Aber dann kommt mir in den Sinn, ob die freiwillige Zurücknahme von Kritik nicht auch wieder Kalkül ist… Vor allem, wenn man mit einem Top-Down-Konzept überrumpelt wird, bei dem es um Einbindung von gecasteten Fans in fest reglementierte Prozeduren geht, welche mit Nähe zu Stars und Organisatoren und wahrscheinlich viel kumpelhaftem Geduze Abgrenzung erschwert und emotionale Ausbeutung begünstigt. 

Betroffenes und engagiertes Grübeln 
Eins ist klar: Vor 25 Jahren wäre diese Veranstaltung in der rbb-Bar ein amüsantes Erlebnis geworden, in der Schwule gewitzelt und gelästert und Transvestiten sich besonders ausgefallen präsentiert hätten. Wahrscheinlich wäre sogar Musik erklungen. 

2017 fanden sich ca. 15 ernsthaft interessierte und skeptische Fans zusammen, die als Eurovisionswächter, Musikpolizisten und Toleranz-Blockwarte angesprochen wurden. 

Zusätzlich waren ca. 35 zufällig anwesende Bar-Gäste in der Dachlounge. Als ich die Irritation in deren Gesichtern sah, taten mir die Eurovisionsmänner fast leid. Sie sortierten, werteten und besprachen ihre jahrelang gesammelten trockenen Datenmengen zum Telefonvoting, Juryvoting, zu Ratings und Rankings, nur um zu erklären, wie eine Abstimmung organisiert werden muss, damit ein ESC-Sänger und ein 3-Minuten-Pillepalle-Musikstück ermittelt werden, mit denen man beim ESC 12 Punkte bekommt. Ein ahnungsloser Gast fragte mich schließlich kurz vor Schluss: 

Ist das hier eine Betriebsversammlung? 
Eine Betriebsversammlung, bei der betriebsfremde Menschen in ihrer Eigenschaft als Homosexuelle und in ihrem Hobby Eurovision angesprochen werden, damit sie sich für Belange von privater EBU, Rundfunk, Datananalysefirmen, Musik- und Telekommunikationsindustrie engagieren. Von 15000 Bewerbern will die Datenanalysefirma durch intensives Auswahlverfahren 100 Fans ermitteln. Oder muss ich schreiben „zurück gewinnen“? Neben ahnungslosen Nachwuchs-Fans eben auch jene echten ESC-Fans, die man seit 1998 mit schadenfreudigen Polarisierungs-Strategien und Zensur verprellt hat? 

Die 100 ausgewählten Fans werden nicht nur online abstimmen, sondern müssen zu gegebener Zeit auch Vor-Ort-Termine wahrnehmen. Die Reisekosten sollen - glaube ich - erstattet werden, aber von Verdienstausfällen oder Vergütungen wurde nicht gesprochen, womit ich wieder bei der emotionalen Ausbeutung wäre… Und ich gehe davon aus, dass diese 100 auch im Social Media die Werbetrommel rühren werden, und das nicht mit Accounts von NDR, Digame oder Telekom.

Im Gegensatz zu vorangegangenen Meldungen sollen diese 100 ausschließlich Deutsche sein, nun mit der Begründung, dass das deutsche Televotingergebnis fast deckungsgleich mit dem europäischen Endergebnis ist. Nanu! Im krassen Gegensatz zur Abstimmung bei der deutschen Vorentscheidung, wo sie ständig „falsch“ wählen und verlieren, wählen Deutsche also beim ESC repräsentativ? Einen besseren Beleg für die Unsinnigkeit des neuen Konzeptes hätte der NDR nicht bringen können. 

Solange die Qualität der Auswahl gedrosselt wird, hat der Wähler keine Chance 
Ich befürchte, dass das den auserwählten Teilnehmern vor lauter Euphorie egal wird. Wer überhaupt an solche Abstimmungsmarathone interessiert ist, wird sich ohnehin kaum ein Lied länger als 15 Sekunden anhören. Bei manchen wird es sogar egal sein, ob über Automarken, Steichelzoo oder Musik abgestimmt wird. 

Dass mir bei diesem Top-Down-Konzept schließlich die Bezeichnung “Putin‘s Trollfabrik“ einfiel, war auch der Tatsache geschuldet, dass man selbst bei diesem Zusammentreffen ohne Seitenhiebe auf Russland nicht auskam.

Widersprüche und Kritisches zum neuen Konzept 

Viele Länder entziehen sich der Abstimmung 
Beklagt wurde, dass es europaweit zu wenige Anrufer gibt, so dass die Abstimmungen in vielen Ländern nicht als repräsentativ herangezogen werden können. Mit der Feststellung, dass sich die Teilnahme am Telefonvoting überwiegend auf die westeuropäischen Kernländer der Eurovision beschränkt, wurde immerhin (m)eine Verschwörungstheorie zur Realität erklärt: Dass nämlich seit einigen Jahren die Anrufe aller Länder addiert werden, hat nichts mit Spannungsaufbau, sondern ausschließlich mit mangelndem Interesse zu tun.  

Gründe sieht man darin, dass in vielen Ländern das Telefonvoting nicht sehr verbreitet und darüber hinaus sehr teuer ist. Damit wird aber unterschlagen, dass viele westeuropäische Telefonvoter nur mit Gewinnen von Geld, Autos, iPhones, Reisen etc. ans Telefon gelockt werden. Zudem unterschied man zwischen Interesse am ESC und am Telefonvoting, was aber nicht weiter belegt wurde. Es könnte sich ja auch um ein generelles Desinteresse handeln. 

Was sagen die Digame-Statistiken über europäische Telefonvoter aus? 
Der Kern bestehe aus „jungen, Party-affinen, homosexuellen, toleranten Menschen“. Bissig formuliert wäre das nun also die betrogene Gruppe, die lt. Medien von den erfolgreichen russischen, türkischen, slawischen oder armenischen Diasporas jahrelang überstimmt und „beschissen“ wurde. 

Das Adjektiv tolerant wurde erstmals 2013 in Bezug zu sexuellen Vorlieben und Aussehen von Conchita Wurst strapaziert und weist darauf hin, dass eben nicht nur Musikgeschmack, sondern tatsächlich Einstellungen und Verhalten gemessen bzw. konditioniert werden. Konditionierung zum einen, indem die Kunstfigur Wurst schon seit Jahren in einem Negativbezug zu Russland gesetzt wird. Konditionierung findet auch im Unausgesprochenen statt: Die Eigenschaft der Toleranz wird positiv besetzt und impliziert, dass die Masse der europäischen Anrufverweigerer einer nicht akzeptablen Intoleranz zugeordnet wird. 

Mit Worthülsen wird den deutschen Homosexuellen und rechten LGBT ein hegemonialer Habitus antrainiert 
2016 wurde Europa belehrt, dass „Toleranz“ aus humanistischer Sicht schnell zum Etikettenschwindel werden kann. Es gewann nämlich nicht der „tolerant angeschwulte“ Beitrag aus Russland, sondern ein schwerfälliges Lied über Stalin eines ukrainischen Schreihalses. Hier demonstrierten die Juroren größtmögliche Toleranz gegenüber inhumane militärische Anliegen der NATO und Intoleranz gegenüber Russlands Interessen. 

Auch Putinphobie wurde während der Präsentation gepflegt, z. B. als es um die Begründung zur Beliebtheit von Conchita Wurst im intoleranten, homophoben Russland ging. Von russischen Telefonvotern wurde sie 2014 auf den 1. Platz und von russischen Juroren auf immerhin den 2. Platz gesetzt. Erklärung: Es handele sich um Anrufer aus den Ballungsgebieten Moskau und St. Petersburg, und diese Städte repräsentieren nicht „Putins Russland“. Ist das so? Oder biegt man sich für Abstimmungsfakes nur passende Erklärungen zurecht? 

Wie Ratten im Versuchslabor 
Für Verhaltensforscher sicherlich interessant zu untersuchen, unter welchen Bedingungen sich Menschen immer bereitwilliger beliebige und unglaubwürdige Abstimmungen und PR-Märchen nicht nur schön reden, sondern auch noch vehement gegen „Intolerante“, „Ungläubige“ und „Verschwörungstheoretiker“ verteidigen, ohne auch nur einen einzigen Beleg für die Korrektheit der Zahlen vorweisen zu können. 

Das schlechte Abschneiden Deutschlands der letzten Jahre  
erklärte Thomas Schreiber damit, dass die Musikindustrie falsch vorbestimmt hätte, dass er in Gremien überstimmt worden war, dass Mitarbeiter nicht umgestimmt werden konnten, dass eine anonyme Öffentlichkeit verstimmt gewesen sei, dass Komponisten ihm nicht zugestimmt hätten, dass das Publikum falsch abgestimmt hätte… Eine überzeugende Ausgangsposition für nun noch mehr Abstimmungen bot er damit nicht. 

Und solange es keine Transparenz darüber gibt, wer über wen und was in den Hinterstuben der Rundfunkhäuser und Datenanalysefirmen bestimmt, traue ich den Konzepten und Statistiken auch weiterhin nicht.


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Samstag, 11. November 2017

Wie muss ein guter Blogtext beschaffen sein?

Gestern abend - nach der NDR-roadshow in der rbb-Dachlounge, bei der das neue NDR-Konzept zum ESC 2018 vorgestellt wurde - eine inspirierende kostenlose Umfrage auf Twitter: 

Liebe Follower, was macht eurer Ansicht nach einen guten Blogbeitrag aus? Welche Komponenten sollte er enthalten? Wie sollte er formuliert sein? 

Hier die Antworten eines deutschen Twitter-Panels: 

Er sollte sich auf sein Thema konzentrieren, kurzweilig sein und auf zu viele weiterführende Links verzichten. 
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Dazu hat Aristoteles schon alles gesagt 
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Er muss einfach 1 stabilen grind fahren dann gehts schon 
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Epigramme, Glossen und Madrigale. Gern auch Formgedichte 
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Er sollte alle wesentlichen Komponenten enthalten und sehr gut formuliert sein. Einfahc halt so, das 1 Leser foll apgehd bein lesen. 
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Ehrlich sollte er sein und ein bisschen lustig... 
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Respektvoll, bescheiden und voller Anmut. 
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Witzig 
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Man sollte nicht erkennen können, dass sich der Blogger selbst für klug hält oder sich moralisch überlegen fühlt. 
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Nur nie geschriebene Blogartikel sind gute Blogartikel. 
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Wenn das beantwortbar wäre, gäb's nur gute Blogbeiträge. Dieselbe unbeantwortbare Frage, wie man einen Hit produziert. Das entscheidet allein die Zielgruppe - hinterher. 
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Samstag, 4. November 2017

NDR lässt sich für Vorentscheidung zum ESC maßgeschneidertes Publikum anfertigen

Das erinnert spontan an Joachim Gauck: „Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem“. Deswegen müssen sie ausgetauscht werden, und beim ESC kann man das schon mal testen. 

Auf die wachsende Legitimationskrise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks reagiert der NDR mit Disqualifikation des deutschen Publikums, das für die ESC-Niederlagen verantwortlich sei und tauscht es mit dieser Begründung gegen ein international zusammen gebasteltes Publikum aus. Als Sanktionsmaßnahme müssen die Deutschen diese Demütigung mit GEZ-Gebühren finanzieren, was wiederum ein schöner Aufhänger für Identitäre und AfD sein dürfte. 

Kniefall vor denen, die den Deutschen nie Punkte geben 
Jüngste Pressemitteilungen könnten fast als Hilferuf einer verkannten nationalen Rundfunkanstalt an die internationale Gemeinschaft missverstanden werden, wenn sie nur nicht alle in deutscher Sprache geschrieben wären: „Internationaler Publikumsgeschmack und internationale musikalische Fachkompetenz sollen Deutschland wiedererkennbar, kantig und erfolgreich machen.“ Ob wirklich Fachkompetenz gefordert ist, sei dahin gestellt. Schaut man sich das Verfahren genauer an, kann es eigentlich nur um die Forderung nach „richtigen“ Vorlieben und „richtigem“ Verhalten gehen: "Wir möchten dich besser kennenlernen. Dazu musst du 15 Minuten aufwenden, in denen du uns durch 2 x 6 Video-Bewertungen deinen Musikgeschmack zeigst."  

Das nationale Publikum hat die falschen Vorlieben und verhält sich falsch
Es ist lt. NDR selbst bei trivialen Abstimmungen nicht fähig klug zu entscheiden. Dass man es jedoch immer nur zwischen Pest und Cholera entscheiden lässt, wird verschwiegen. Dass es am Schluss überhaupt noch am Telefonvoting teilnehmen darf, ist wohl nur den kommerziellen Interessen der Telekommunikationsindustrie zu verdanken, so wie der NDR ohnehin auch in seinem neuen Konzept ausschließlich der Industrie verpflichtet zu sein scheint. 

Data-Mining zur Vermeidung der Bildung einer kritischen Masse
Unterstützung holt man sich von der Datenanalysefirma Firma Simon-Kucher & Partners. Diese sammeln Nutzerdaten und haben für die Ermittlung eines Verbraucher-Panels einen speziellen Algorithmus entwickelt. Als Laie denkt man bei dieser Art Algorithmen an Facebook und Amazon, die die User unaufgefordert mit Werbung belästigen, welche angeblich zum Profil passe. Manchmal gibt es auch willkürliche Sperren

So ein Algorithmus setzt aber beim NDR-Konzept voraus, dass man im Voraus eine genaue Vorstellung vom Siegerbeitrag hat. Tatsächlich ermittelte der NDR auf Grundlage „vorher definierter musikalischer Genres“ 5 potenzielle Siegersongs. Ich befürchte, dass der Algorithmus rein rechnerisch zu den 5 Siegersongs die passenden Jubelscharen rekrutiert. 

Weitere Nutzerdaten zu Geschmack und Verhalten stammen von der Kölner Firma Digame, die seit Jahren für das Votingverfahren beim internationalen ESC verantwortlich ist – und deren Ergebnisse noch nie von unabhängigen Journalisten überprüft wurden. Die Daten der europäischen Anrufer werden also tatsächlich für Profiling und Wiederverwertung gespeichert. Achtung: Wer für die russischen Beiträge angerufen hat, ist als Kreml-Troll gebrandmarkt. 

Statistiken suchen Statisten 
10000 Europäer werden im Internet beobachtet, im mehrstufigen Auswahlverfahren überprüft, daraus 100 rekrutiert, diese stellen das sog. internationale Europa-Panel. Diesem Panel wird eine internationale Experten-Jury aus ca. 25 Personen beigesellt, die schon in anderen europäischen Ländern an Abstimmungen bei Vorentscheidungen mitgewirkt haben. Das Europa-Panel wählt aus Bewerbungen 20 Kandidaten aus, daraufhin prüft der NDR die Eignung dieser Kandidaten. Danach wählen das Europa-Panel und die Expertenjury 5 Teilnehmer für die Vorentscheidung im TV. Diesen 5 ESC-Hoffnungsträgern werden dann die vorher ausgewählten 5 Songs zugewiesen. 

Mit Musik und Mitbestimmung hat das Ganze nichts mehr zu tun 
Medien wünschen kein echtes Publikum mehr, das Publikum soll keinen Wert mehr auf „Credibility“ legen. „Glauben“ soll man stattdessen an intransparente Ergebnisse und Verfahren maschinenmäßiger Abstimmungsprozeduren, die zu gegebener Zeit mit den genauso künstlichen Rankings der Wettbüros korrespondieren und von künstlich erstellten Pressemitteilungen massenhaft beworben werden. 

Und was sagt der ARD-Programmdirektor Volker Herres? 
"Ganz ehrlich gesagt will ich in meiner Amtszeit gar nicht so unbedingt noch mal gewinnen, denn dann ist man im nächsten Jahr Gastgeber, und das ist teuer."


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