Freitag, 16. Oktober 2009

Spaßgesellschaften im Repressionswahn Teil II

Weil die Ergebnisse der letzten Song Conteste nicht ganz den Vorstellungen der Organisatoren entsprachen, haben sie sich 2009 gegen das Publikum positioniert und für die Wertung im Finale die Jurys wieder eingeführt, die jetzt das Ergebnis zur Hälfte mitbestimmen. Damals hat mich u. a. die Begründung gestört: Von Diaspora-Wertung und Ost-Mafia war vielfach die Rede.

Jetzt wurde die Jury auch für die Semifinale wieder eingeführt, diesmal mit der Begründung, dem Wunsch vieler Fans und Journalisten entgegenzukommen. Sehen diese etwa im guten Abschneiden von Norwegen und Island die alte Ordnung wieder hergestellt? Ich möchte nicht glauben, dass diese Art Schadenfreude und Chauvinismus ausschlaggebend gewesen sein könnte…

Tabubrüche
Verdrängt wird gerne, dass Deutschland 1998 mit genau dieser Diaspora-Strategie den Anfang machte. Gemeinsam mit der Telekom wurde versucht, das Votingaufkommen mit dem polarisierenden Beitrag „Piep, piep, piep, Guildo hat euch lieb“ von Quertreibern wie Raab und Horn zu puschen. Gerne wieß man darauf hin, dass die Fans mit Handys in die Schweiz, die Niederlande, nach Dänemark und Polen bis nach Mallorca gereist seien. Fazit 10 Jahre später: Dumm gelaufen.

Auch könnte man vermuten, dass sich die Telefonabstimmungen für die Telefongesellschaften nicht mehr rentieren, seitdem sie alle Verbindungen ½ Jahr zu speichern haben (Vorratsdatenspeicherung). Fans rufen gerne locker 25x für ihre 7 Lieblingsländer an. Das kostet und niemand kann mit den Daten etwas anfangen. Außer Aserbaidschan, das als erstes Land offen Gebrauch von gespeicherten Daten machte und damit ans Tageslicht brachte, was die westlichen Länder gerne unter den Teppich gekehrt hätten, nämlich anlasslos in die Grundrechtspositionen sämtlicher Nutzer elektronischer Dienste einzugreifen zu dürfen. (1)

Kompetenz ok, Neutralität Glücksache?
Meine Einstellung zur Jury bleibt 50 : 50. Jurys fordern m. M. nach beim Publikum eine Distanz zur Show heraus, und die kann nicht schaden. Ein paar Fachkräfte aus der Musikindustrie pro Land sollen jetzt die Jury stellen und diese dürfen zu 50% Einfluss auf das Ergebnis nehmen. Sollte die engere Einbindung der Musikindustrie zur Folge haben, dass nun nicht mehr ausschließlich contestspezifische 3-Minuten-Acts, sondern markttaugliche Popmusik dargeboten wird, fände ich das ok. Aber führt eine aus der Musikindustrie zusammengestellte Jury nicht eher dazu, dass transnationale Musikkonzerne ihre Standortvorteile nutzen und von Vertretern ihrer Tochterunternehmen ihre eigenen Produkte bepunkten lassen? Dann wäre die Jury-Abstimmung eine öffentlich zelebrierte Lachnummer.



(1) aus gg. Anlass zur Vorratsdatenspeicherung: Der rumänische Verfassungsgerichthofs hat am 08.10.09 die verdachtslose und flächendeckende Aufzeichnung der Telekommunikationsverbindungen und Handystandorte der gesamten Bevölkerung wegen Verletzung des Fernmeldegeheimnisses als verfassungswidrig verworfen.

Donnerstag, 8. Oktober 2009

Volksbelustigung

Einen ersten Eindruck des deutschen Castings zum Eurovision Song Contest kann man auf der Homepage des NDR bekommen. Die Darstellung erscheint mir allerdings wie eine Gratwanderung zwischen Info und Ironie. Trotz Beschwörung des Professionellen sind die meisten Teilnehmer wohl zum ersten Mal bei einem Casting, einige sind sogar nur zufällig vorbeigekommen. Zitate: "Ich kann Töne treffen und könnte Deutschland würdig vertreten. Deshalb biete ich meine Hilfe an", oder "Ich entspreche dem modernen Zeitgeist".

Der Intendant des SWR behauptet, das alles sei im Sinne der Veranstalter, der Zuschauer und der Hörer. Und: "Es gibt schon knapp 1000 Bewerbungen." Dänemark hingegen muss sich begnügen mit 562 Bewerbungen. Schweden wiederum kommt auf 2860 Interessierte (Angabe ohne Gewähr).

Werbung dieser Art nehme ich sonst nur wahr, wenn mal wieder hinter vorgehaltener Hand über zahlreiche Bewerbungen bei einem Unternehmen fürs Assessment-Center berichtet wird. Das soll im Sinne der Zuschauer sein? Oder sind mir die letzten gesellschaftlichen Veränderungen entgangen? Sollen gar Brigaden von Casting-Teilnehmern aus europäischen Ländern vom Kombinat der EBU auf der "Straße der Besten" für ihre Verdienste gekürt werden? Spaß beiseite. Solch eine Inszenierung von Massenkult und Massenvermarktung passt einfach nicht zum sonst bejubelten Elitenideal und Geniekult.

Ein Herz für Musiker?
Mitnichten. Mit solchen Zahlenangaben meinen die Organisatoren sich selber. Castingshows, das sind immer noch die anderen, die Unterschicht. Oder sind die Organisatoren durch ein Casting an ihre Jobs gekommen?

Es ist sogar davon auszugehen, dass zwischen all den Sparkassenangestellten und Hartz-IV-Empfängern sich auch praktizierende Musiker bewerben. Ich kann es sogar verstehen, ist es doch eine einmalige Chance auf einen Aufstieg. Nur dass ein Musiker sich mittlerweile bewerben MUSS, weil sogar der gebührenfinanzierte Rundfunk ihm vormacht, dass es sonst keine Karriereprofile und Betätigungsfelder mit Aufstiegschancen gibt, finde ich schlimm.

Wo gerne bei der Bildung gespart wird, bleibt vor allem der Musikunterrricht und die Musik auf der Strecke. Aber immerhin profitieren alte Männer davon: Ob Schweden, Dänemark, Deutschland, NDR, Raab oder Simon Rattle... sie können sich als Wohltäter und damit - in ihrem bürgerlich elitären Verständnis - als die wahren Stars feiern lassen.

Wehe nur, die Jugend geht auf Distanz und weiss sich zu helfen...