10 Jahre ein weltweites Alleinstellungsmerkmal als Frau in einem unfairen Spiel, das seit 20 Jahren auch als „schwule Sportart“ bezeichnet wird: der Eurovision Song Contest. 10 Jahre lang regelmäßig Blogtexte vor der Austragung über politischen und militärischen Missbrauch, für die ich genauso regelmäßig wie reflexartig von der rechten LGBT als Verschwörungstheoretikerin angegriffen wurde. Als diese möchte ich mir und meinen Gegnern auch in einem ereignislosen Jahrgang treu bleiben.
In 2018 verläuft die Vorbereitungsphase politisch derart ereignislos, dass ich im doppelten Sinne sprachlos bin Kein Diktator weit und breit, der den ESC für böse Selbstdarstellung missbraucht. Kein Jammern wegen Homophobie. Kein Schreihals, der mit einem Stalin-Song Russland dämonisiert und die Nato-Anhänger entzückt. Keine ermüdende Promo über schwedische Super-Heroes. Kein Fräuleinwunder mit Onkel im deutschen Kanzleramt, die mit schiefen Tönen total emotionalisiert. Kein männlicher Teilnehmer, der sich vorbildlich auf den Operationstisch zur Frau hat umoperieren lassen. Kein Mann mit Bart im Abendkleid als die Krönung westlicher Werte. Plagiatsvorwürfe? Regelbrüche? Alles kein Thema dieses Jahr.
Ist Schweigen die neue Verschwörung? Liegt es an der Zurückhaltung und Bescheidenheit der Portugiesen? Oder hat die EBU die Reißleine gezogen? Sind durch die inszenierten Polit-Querelen die Einschaltquoten gesungen? Hat sich die Telekommunikationsindustrie deswegen gar über sinkende Einnahmen beschwert? Hat es gar mit dem Regierungswechsel in den USA zu tun? Haben etwa die von George Soros finanzierten NGOs Bedenken, vollends aufzufliegen? Haben die bislang angegriffenen Nicht-NATO-Länder endlich ein wirksames Druckmittel gefunden?
Oder ist es nur die Ruhe vor dem Sturm?
Glaskugel-Verschwörung Lediglich bei 2 Beiträgen wittere ich die üblichen volksverhöhnenden Framings, und zwar bei Frankreich und Israel. Der israelische Beitrag wird wegen etwas Gender-Gaga sogar als Sieger gehandelt, womit die (Kriegs-) Stimmung beim Länderwettbewerb ESC gerettet wäre. Italiens Beitrag hingegen würde sich bestens als Hymne für Ostermärsche eignen. Leider werden Ermal Meta und Fabrizio Moro nicht als Sieger gehandelt.
Die üblichen verdächtigen Nicht-NATO-Länder Russland und Aserbaidschan schicken dermaßen „unscheinbare“ Beiträge ins Rennen, dass ich befürchte, sie im Finale nicht mehr wieder zu sehen. Dass stattdessen Weissrussland etwas mehr Promotion macht als üblich, ist weniger dem Lied, sondern eher der Eitelkeit des Sängers geschuldet. Der Beitrag aus Serbien erfüllt auf nette Weise die Erwartungen.
Der Song aus Georgien hingegen ist im ESC-Bezug musikalisch allererste Sahne. Ein Sieg wäre die Ansage, dass man auf einmal wieder Wert auf guten Gesang und Tradition legt. Soll das?
Und wenn, wäre Estland mit einer russischstämmigen Sopranistin da nicht als ESC-Sieger geeigneter?
Oder startet Russland dieses Jahr mit einem Song von Kirkorov gar verdeckt unter moldawischer Flagge?
Auf jeden Fall könnte mit den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Moldawien oder Estland als Austragungsland in 2019 Russland wieder angegriffen werden Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die letzte Regeländerung in Juli 2017, die zwar kaum thematisiert aber sicherlich nicht ohne Grund vorgenommen wurde. Von der Ukraine noch dreist durchgezogen, wurde damit im Nachhinein legitimiert, dass Gastgeber Einreiseverbote erteilen dürfen, und das aufgrund irgendwelcher fadenscheiniger Gründe.
Von den diesjährigen 42 Beiträgen werden nur 3 Lieder in Landessprache gesungen. Die meisten Songs folgen einem anglo-amerikanischen Ideal, wie man es seit den 80ern rauf und runter in Millionen Formatradios hören kann. Bedauerlicherweise werden auch die InterpretInnen nach Einheitsschema vermarktet. Es gibt nicht mal mehr Wettkämpfer, die sich mit Sprüchen, Werbeaktionen o. ä. hervortun.
Ob es mit Einfallslosigkeit, Einschüchterung oder einem überholten Verständnis von Modernität zu tun hat oder ob die USA selbst im Musikbusiness anderen Ländern mit Krampf und Gewalt ihre veralteten Vorstellungen aufzudrücken versucht, sei dahin gestellt. Fakt ist, dass es langweilig ist.
Um eine einigermaßen unterhaltsame Show auf die Beine zu stellen, käme man dieses Jahr mit 13 Liedern aus.
Armenien: Die gute Nachricht ist, dass Armenien mal nicht den Genozid besingt, sondern mit Sängerin Artsvik und dem Song“Fly With Me“ nettes Folktronica präsentiert. Die schlechte Nachricht: Dem Land wurde beim Timing eine Extrawurst gebraten, damit sie den perfekten Song abliefern. Vielleicht wirkt der Clip deswegen etwas nach verkrampften Marionettentheater. Aber könnte trotzdem passen, denn es steht zu befürchten, dass die Militärs nach der Ukraine das nächste finanzschwache Anrainerland Russlands mit Eurovisionstralala in die Knie zwingen und als Aggressionskorridor gegen Russland aufstacheln. Und gegen Aserbaidschan gleich mit… (von mir 6 Punkte)
Aserbaidschan: Sängerin Dihaj dürfte dieses Jahr die Extravaganteste sein. Sie präsentiert mit ihrem Song „Skeletons“ Electronica, aber mit „secret message“ und neuer Erzählhaltung. Vonwegen ich bin ein Gutmensch und will ja nur den Frieden… (10 Punkte)
Weissrussland: Es ist das erste Mal, dass wir beim ESC die weissrussische Sprache zu hören bekommen, verpackt in Folk-Pop. Ein unbeschwerter fröhlicher Beitrag von Naviband, der zum Schluss mit vielen Hey-Hey-Rufen leider etwas ereignisarm wird, was aber hoffentlich durch die Sängerin, die eine Rampensau zu sein scheint, aufgefangen wird. (1 Punkt)
Belgien: Auch Belgien kommt mit Elektronic-Pop von der blutjungen Sängerin Blanche, die ihr „City Lights“ streckenweise mit für Teenies ungewöhnlich tiefer Altstimme singt. Für mich eigentlich ein angenehmer Kontrast zum plärrenden Pädophilen-Pop, leider ging ihr Gesang bei Live-Auftritten bisher kläglich unter. Ich bin allerdings überzeugt, dass die Techniker in Kiew diesen Beitrag trotzdem als erwachsen und cool vor uns erstehen lassen. (5 Punkte)
Kroatien: Ungewollt komisch. Konzentriert man sich nur aufs Akustische, glaubt man ein Lied von Otto Waalkes oder Loriot zu hören. Der unbestritten gute Sänger Jacque wechselt in jeder Zeile zwischen Tenorstimme in italienischer Sprache und natürlicher Stimme in englischer Sprache und wirkt damit wie ein Bauchredner. Fehlt beim Auftritt nur die noch Handpuppe.
Finnland: Unaufdringliche Entspannungsmusik des New Age mit Titel „Blackbird“ von Norma John, die man in Dauerschleife hören kann, vor allem zu Weihnachten. (2 Punkte)
Ungarn: Auch Ungarn singt endlich mal in ungarischer Sprache und stellt ungarische Musik vor. Das Lied ist ein Crossover zwischen ungarischer Zigeunermusik und Hiphop. So stelle ich mir einen Eurovisionsbeitrag vor. (3 Punkte)
Moldawien: Sympathischer Elektro-Balkan-Freak-Folk, wie man es seit ihrem Debüt mit der Band Zdob si Zdub von den Moldawiern erwartet. (8 Punkte)
Niederlande: Eine altbackene Ballade, die den Hörer aber mit perfekter Dreistimmigkeit in den Bann ziehen wird. Sollten die Geschwister ihre Ballade live auch so perfekt performen wie im Studio, ist das was Besonderes. (4 Punkte)
Portugal: Der Performer Salvadore Sobral weicht mit seiner kindlichen Selbstvergessenheit, einem verträumten Jazz-Walzer „Amar Pelos Dois“ und ergreifendem Text angenehm von der hohlen Formatradiomusik ab. Die gelangweilte Melodie, die portugiesische Sprache und die leisen Töne des Sängers erinnern mich sogar etwas an Bossa Nova. (7 Punkte)
Rumänien: Hiphop mit Jodeldiplom. Ein Schenkelklopfer, der nicht nur mutig aus dem Rahmen fällt, sondern auch lustig klingt. Dem ESC würden ein paar mehr solcher schräger Beiträge gut tun.
Ukraine: Rockmusik, für sich gesehen nichts Besonderes, aber beim ESC mit 30 gleichförmigen Formatradioliedern erfrischend ehrlich. Die abgerissenen Musiker präsentieren sich auf einem Trümmerfeld und erbitten sich etwas Zeit zur Erholung und Selbstfindung. Den Wunsch kann ich verstehen. Ich hoffe nur, dass sie die Performance einigermaßen gastfreundlich gestalten, ohne Schüsse und ohne Blutopfer, wie bei der Vorentscheidung.
Italien: Das einzige Big-5-Land in meiner Auswahl! Beim italienischen Beitrag wurde zwar das Rad nicht neu erfunden, aber es wirkt nach all dem politischen Missbrauch, dem Betroffenheitsgesülze und der englischen Kaugummi-Sprache wie ein erholsamer Italien-Urlaub. Mit einer leckeren Tasse Café oder einem Glas Wein, einer Portion Humor und Selbstironie endlich Abstand vom europäischen Alltag gewinnen und sich den schönen Dingen des Lebens widmen:
Der leichten Muse und Philosophie und einem hinreißend charmanten Gigolo mit Namen Francesco Gabbani. 12 Punkte!
Nach dem Ausstieg 1997 nimmt Italien 2011 wieder am Eurovision Song Contest teil. Ihnen war seit jeher das "Festival della canzone italiana" (Sanremo-Festival), welches als Vorläufer des ESC gesehen werden kann, wichtiger. Die Gründe für die Rückbesinnung auf den ESC wurden zwar nicht öffentlich genannt, liegen aber für mich auf der Hand:
Der ESC wird derzeit maßgeblich von den sog. Big-4-Ländern, das sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien, finanziert. Da aber letztes Jahr Deutschland als eines dieser Big-4-Länder gewonnen und in diesem Jahr den kostspieligen ESC auszurichten hat, ist es von dieser Mitfinanziering entbunden. Um die Differenz auszugleichen, hat man wohl Italien, das den gleichen Status besitzt, um die Teilnahme gebeten. (Sollten meine Überlegungen nicht richtig sein, lasse ich mich gerne korrigieren.)
Seitdem Italiens Teilnahme feststand, hatten wir Fans eigentlich einen italienischen Beitrag der letztjährigen X-Factor-Siegerin, Nathalie Giannitrapani, erwartet und waren um so verdutzter, als Italien stattdessen Raphael Gualazzi nominierte, und dies mit dem für den ESC eher untypischen Beitrag "Follia d'amore". Böse Zungen lästerten sogar, dass der Sieger wohl schon wieder feststünde und Italiens Teilnahme nur reine Formsache sei.
Ich sehe es etwas anders: Ungewöhnlich für westeuropäische Länder setzen dieses Jahr einige (z. B. Niederlande, Belgien und UK) nicht auf die Magie von 3-Minuten-Liedern, sondern gezielt auf die Professionalität der Musiker, die dem diesjährigen Contest somit eine ganz besondere Note verleihen.
Gottseidank mal keine eingängige 3-Klangs-Harmonik mit Disco-Fox-Rhythmen, keine geglättete Schönheit, kein unnötiges technisches Blendwerk, dafür aber eine Swing-Performance mit für den ESC herausragender Distinktion, Musikaltität und Ironie, vor allem wenn seine "Madness of Love" in der „aria d'urlo“ (Arie mit dem Schrei) mündet ;-)
Von seiner Homepage erfährt man, dass er am Staatlichen Konservatorium "Gioachino Rossini" ausgebildet wurde, wo er sich zunächst auf klassische Kompositionen konzentrierte und später Jazz, Blues und Fusion in sein Piano-Spiel mit einbezog.
Auf Raphael Gualazzis Homepage heisst es weiter: "His music was born of the fusion between the Rag-time technique of the early 1900s and the lyricism of Blues, Soul and Jazz in its more traditional form. The typical pre-jazz and stride-piano sounds of Scott Joplin, Jelly Roll Morton, Fats Waller, Art Tatum and Mary Lou Williams, and the Blues of Ray Charles and Roosevelt Sykes, are brought up to date by Raphael Gualazzi with an extremely personal style in which tradition co-exists with the most innovative influences of such eclectic artists as Jamiroquai and Ben Harper."
Es ist durchaus lohnenswert, sich auf seiner Homepage die Live-Auftritte von ihm anzuschauen. Im folgenden Video stellt er sich, seine Musik und seine musikalische Entwicklung noch einmal vor (mit englischen Untertiteln).
Raphael Gualazzi nahm dieses Jahr am Sanremo-Festival teil und gewann mit dem von ihm selber geschriebenen und arrangierten Stück "Madness of Love" in der Kategorie Newcomer, daraufhin nominierte ihn RAI für den Eurovision Song Contest. Das Lied "Madness Of Love" findet sich übrigens auch im Soundtrack zum Film "Manual Of Love 3", von Giovanni Vchosen, in dem u. a. Robert De Niro and Monica Bellucci mitwirken.
Da Italien - wie bereits erwähnt - zu den Big-5-Ländern zählt, bekommt es Wettbewerbsvorteile und muss sich nicht erst im Semifinale qualifzieren. Raphael Gualazzi wird sein Lied im Finale am 14.05.2011 als Startnummer 12 präsentieren.
Mehr über Raphael kann man in einem Interview des Südafrikanischen ESC-Fanclubs OGAE Rest of the World (ja, so etwas gibt es) erfahren.