Sonntag, 18. Februar 2018

Frankreich und Italien beim ESC 2018 – Protestsongs oder Küchenlieder?


An den Beiträgen aus Frankreich und Italien erhitzen sich die Gemüter. Während die ESC-PR politische Botschaften filtert, lobt oder bemängelt, fühlt sich ein großer Teil der ESC-Fans von den Liedern genervt. Die Verärgerung ist interessant, denn beide Lieder erwecken den Anschein, aus der Mitte der Bevölkerung die Stimme des Volkes zu repräsentieren. 

Wieso scheitern diese Beiträge beim ESC-Fan? 
Das Lied des Duos Madame Monsieur aus Frankreich heisst „Mercy“ und behandelt das Thema Flucht, die Italiener Ermal Meta und Fabrizio Moro besingen in ihrem Lied „Non mi avete fatto niente„ den Terrorismus. Da man seit Jahren mit Schlagzeilen zu diesen beiden Themen erschlagen wird, ist die Genervtheit der Fans nachvollziehbar, denn beim ESC möchte man diese Themen nicht auch noch serviert bekommen. Sind sie deswegen unpolitisch oder hat sich mittlerweile Empörungserschöpfung breit gemacht? 

Neben den politischen Themen besteht eine weitere Gemeinsamkeit beider Beiträge in ihrem Bezug zur Realität, allerdings eine durch die Brille der Medien vermittelte Realität. Frankreich bezieht sich auf eine Medienschlagzeile über die Geburt eines Kindes auf einem Flüchtlingsboot. Italiens Beitrag liegt ein offener Brief zugrunde, den der Ehemann eines Opfers des Bataclan-Anschlags auf Facebook veröffentlicht hatte, mit der Überschrift „Ihr werdet meinen Hass nicht bekommen“.  

Beide Duos singen also nicht von sich, sondern wählen das Mittel der Perspektivverschiebung, indem sie die Ich-Erzählperspektive der Betroffenen einnehmen. Das soll wahrscheinlich Rationalität vortäuschen, hat aber die entgegengesetzte Wirkung. Merkmale der Ich-Perspektive sind nämlich Subjektivität und eine beschränkte Sichtweise. Im Effekt geeignet, beim Hörer Identitätsgefühle und Betroffenheit auszulösen. Oder eben auch nicht.

Politischer Protestsong aus Italien 
Die Musik hat etwas Mitreißendes, von Beginn an wird man von einem gleichmäßig metrischen Akzent im geraden Takt eingefangen und an den Gleichschritt erinnert. Man kann es mit militärischer Marschmusik aber auch mit Protestlieder bei Demonstrationen verbinden. Der Text besteht aus einer ungeordneten Auflistung von Terrormeldungen und Lügen (pazifistische Bombe), denen die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten ausgeliefert war. 

Die 2 Italiener präsentieren sich wie Animateure, die sich und uns mit „Your useless wars, you didn’t do anything to me“ Durchhalteparolen vorsingen. Es folgen Verurteilung von Gewalt - die im Video mittels schwerem Geschütz eindeutig von den Herrschenden ausgeht -, Aufmunterungen und Aufforderung zur Solidarität, zur religiösen Toleranz und Mitmenschlichkeit. Das alles kommt herüber als Utopie der breiten Masse. Das hat es beim ESC so noch nicht gegeben, was offensichtlich viele irritiert.



Französisches Küchenlied 
Die Musik ist spärlich arrangiert, wodurch eine sonderbare Mischung von Intimität und Gleichgültigkeit entsteht. Nach 1 Minute wirkt es nur noch schleppend und eintönig, was nach 2 1/2 Minuten noch verstärkt wird durch die gebetsmühlenartige Wiederholung von Mercy Mercy Mercy...

Die Erzähltechnik ist durchgehend sentimental, die Erzählhaltung peinlich devot: „I was born this morning, My name is Mercy, They offered me a hand, And I’m alive, I am all those children, Who were taken by the sea, I’ll live a hundred thousand years, My name is Mercy“ usw. 

Kitschigerweise wird der Text präsentiert aus Perspektive des vorsprachlich unbewussten Babys. Man erfährt nur, dass das Baby den Überlebenskampf seiner Geburt auf einem Flüchtlingsboot erfolgreich überstanden hat. Genau wie im Medienbericht werden Fluchtursachen, -Kosten und -Ziel ausgeblendet, so dass der Zuhörer mit dem Mittel der Fragmentierung und Dekontextualisierung desinformiert und zur Doppelmoral gezwungen wird. 

Ich jedenfalls kann mir schönere Geburtsumstände, Lebenssituationen und -perspektiven vorstellen. Dass diese menschliche Tragödie völlig verkürzt erzählt und mit einem „Mercy“ ins Gegenteil verkehrt wird, ist für mich der Gipfel von Zynismus und Menschenhass. Ich finde die Sänger arrogant, das Lied lieblos und den Text zutiefst verlogen. Es wirkt wie Terror gegen alle Völker der Erde. Auch das dürfte seine irritierende Wirkung nicht verfehlen.


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