8 mal hat Stig an der estnischen Vorentscheidung teilgenommen. Das 8.
Mal sollte sein letzter Versuch sein. Ob dies in Estland als Drohung
verstanden wurde, weiss ich nicht, aber immerhin ließ man ihn diesmal
die Vorentscheidung gewinnen. Haushoch und zu Recht.
Angetreten für den ESC ist der 1980 geborene Stig Rästa seit 2003 in
diversen Formationen, stets als Gitarrist und Backgroundsänger, aber
auch als Leadsänger der Bands Slobodan River, Traffic und Outloudz.
Außerhalb des ESC hat er sich für die Musikszene seines Heimatlandes
schon mit einigen Nummer 1 Hits verdient gemacht.
Für 2015 hat er die Zügel an sich gerissen und sich mit der 2012 auf
youtube gefundenen Duettpartnerin Elina Born zusammen getan. Für sie hat
er schon Stücke geschrieben und produziert, mit der auch sie als
Solistin 2013 beim estnischen Vorentscheid angetreten ist. Beim ESC in
Wien werden sie gemeinsam singen
„Goodbye To Yesterday“
Vonwegen Goodbye. Der Titel steht im Widerspruch zur Musik, denn das
Lied hört sich sehr nach yesterday und 60er Jahre an. Ich fühle mich
spontan an Nancy Sinatra und Lee Hazlewood erinnert, nur dass diese die
Töne besser trafen. Aber was macht das schon? Stig Rästas tiefe
Männerstimme macht ihn in der Popmusik und vor allem beim ESC zu was
Besonderem. Und Elina bringt mit ihrem Gesangspart so viel Dramatik ins
Spiel, dass man auch ohne Text ahnt, worum es im Lied geht: Er will sich
davonstehlen und sie versucht verzweifelt ihn zu einem Neuanfang zu
überreden.
Weniger ist mehr
Noch stimmiger wird es, wenn ich mir Elina Born & Stig Rästa bei der
Vorentscheidung auf der Bühne anschaue. Die schwarz-weiß-Kamera wirkt –
genau wie ihr Genre - wie ein ironischer Bruch mit dem Liedtitel und
betont zugleich die Tristesse des Abschieds. Minimale Andeutungen in
Gestik und Mimik harmonieren mit dem Liedinhalt und machen aus einer
offensichtlich verwässerten Beziehungskiste einen konzentrierten
3-Minuten-Bonbon. Wenn sie Auftritt und Outfit so belassen und sich
nicht noch den optischen Zwängen des aufgebrezelten ESC beugen, finde
ich es cool. 12 points.
... und das wahrscheinlich weniger aus Überzeugung, sondern aus
Mitleid. Während andere Länder ihre SängerInnen und Songs als die
Neuerfindung der Popmusik und Bereicherung der Nation promoten, erleben
die britischen Teilnehmer gerade das Gegenteil. Seitdem ein anonymes
Komitee der BBC am 07.03.2015 um 22:25 Uhr im TV das Duo Electro Velvet
mit dem Song „Still In Love With You“ als britischen ESC-Beitrag bekannt
gab, sind britische Presse und ESC-Fans „not amused“.
The Guardian:
“[The BBC] is the reason why we're going to collectively hide our faces
behind a pillow come May, and they deserve to be punished.“ Die Lösung:
„Allowing us some form of control over our entry is the only way to
stop terrible mistakes like this from ever happening again“.
Zum Song: „It sounds like a nightmarisch effort to fuse the DNA of Cotton Eye Joe, the 1994 song Doop by Doop and the collected works of Scatman John into a monstrous new form“. The Telegraph fügt hinzu: „The opening lines say it all, really: 'Don't get on the wrong train / Don't fly on an old plane'.This is the wrong train, and it left the station 90 years ago.”
Die Sänger werden charakterisiert als „jobbing performers with an
upsetting lack of taste“. Weiter: „They surely will have some fun in the
Eurovision spotlight but they would be well advised not to give up
their day jobs.”
Zum Komponisten: „David Mindel has a career composing advertising
jingle but I can't believe any of his professional clients would have
accepted something quite this shoddy. The genre is described by the BBC
as electro swing, which apparantly means swing recreated with cheap
digital instrumentation instead of a big band. […]The novelty value [of
Mindel's song] being that the format is so ancient some kids might
actually think it's something new.
Wie viel Schmerz und Frustration die Rundfunkanstalten alljährlich den ESC-Kids zuzufügen in der Lage sind, zeigt das Video eines jungen ESC-Fans,
der mit der Internetgemeinde über youtube die Bekanntgabe des
britischen ESC-Beitrags feiern wollte und am Schluss in schiere
Verzweiflung fällt.
Offensichtlich wissen die britischen Journalisten nichts von David
Mindel‘s Eurovisions-Experimenten. Bei der britischen Vorentscheidung „A Song For Europe“ 1974 machte er den letzten Platz. Weitere Versuche in 1977 und 1982 blieben erfolglos.
So viel vernichtende Kritik macht den Beitrag schon wieder sympathisch
Ich gehe davon aus, dass die beiden Sänger technisch nicht schlechter
sind als die von der Musikindustrie künstlich aufgebrezelten
Eurovisionssieger. Der Unterschied ist, dass bei diesen Interpreten
keine Informationen gesteuert und keine Märchen kreiert werden. Diese
Ehrlichkeit ist begrüßenswert. An diesem Team sieht man, wie schwer es
einfache Musiker in Wirklichkeit haben. Sollte der Komponist David Mindel mit Musik sein Leben bestreiten,
darf er bei bei den Aufträgen nicht wählerisch sein. Der Sänger Alex
Larke ist Musiklehrer an der Grundschule, hat sich in mehreren Genres
versucht und fand seine Bestimmung als Mick-Jagger-Kopie bei The Rollin‘ Clones, einer Rolling-Stones-Coverband.
Bianca Nicholas nahm – leider erfolglos – an „The Voice“ teil. Dafür hat Bianca immerhin den Support von Prinz William,
der sie bei einem Charity-Konzert kennenlernte. Bianca leidet nämlich
an Mukoviszidose. Was für eine mutige Entscheidung, mit dieser Krankheit
vor einem 200 Millionen Publikum live zu singen!
Electro Velvet ist ein reines Eurovisions-Projekt, das nicht viel zu
verlieren hat. Für das Team dürfte schon der Musik-Clip ein Erfolg
bedeuten, dessen Aufwand sie sich ohne die Unterstützung der BBC
wahrscheinlich nicht hätten leisten können. Die Kritik ficht sie nicht
an. „We really are the Mick and Bianca Jagger of Eurovision,“ verkünden sie im Daily Star.
Konzept, Ablauf, Protagonisten, Ergebnis mit Abzocke und
„Überraschungssieger“ wie jedes Jahr. Also erlaube auch ich mir mich zu
wiederholen:
Wozu sich anstrengen? Solange sich der NDR einen Startplatz im Finale
KAUFEN kann? Das wird zwar als Großzügigkeit kommuniziert, im Grunde
bezahlt der Gebühren- und Steuerzahler, dass der NDR die deutsche Misere
der Popszene befestigt und auf Europa überträgt. Was dem Telefonvoter
als Wettbewerb verkauft wurde war auch diesmal im Grunde wieder ein Universal Music gegen Universal Music gegen Universal Music...
Die Show lieferte ein weiteres Mal den Beweis, dass die Diktatur der
Mayor Label und der Rankings einen krankhaften Konformismus erzeugt und
das Gesamtniveau nach unten drückt. Das Siegerlied ist wieder die
übliche Anbiederei an abgedroschene US-Stile und Ann Sophie sieht aus
wie Lena Meyer-Landrut. Die werden offensichtlich geklont.
Wo es keine Konkurrenz gibt, gibt es auch keine Kontrollen mehr
Da kann man die Teilnehmer beliebig austauschen, egal ob vor oder nach
der Abstimmung. Und das wurde dann auch gemacht. Ob sich ein Andreas
Kümmert mit einem anderen Label wohl so einfach die Butter hätte vom
Brot nehmen lassen dürfen? Hätte er beispielsweise ein Lied von Ralph
Siegel gesungen, hätte jedenfalls ein Profi zu Recht darauf hingewiesen,
dass der ESC ein Songwettbewerb und kein Interpretenwettbewerb ist, auf
den Sieg seines Liedes bestanden, Kümmert gut zugeredet oder ggf. einen
anderen Interpreten gesucht. Ralph Siegel ist bislang auch der einzige, der die Telefonabzocke bei dieser ARD-Show kritisiert.
Da es gar keinen Wettbewerb gab, konnte die unbefugte Moderatorin
Schöneberger kurzerhand veranlassen, die Teilnehmer auszutauschen. Ich
teile die Zweifel der Schweizer Nachrichten:
„Im ganzen Tohuwabohu übergab [Barbara Schöneberger] ihm ein wenig zu
schnell das Mikrofon, um seinen Verzicht zu verkünden. […] War das ganze
etwa inszeniert und vorher gar abgesprochen? […] Spontan und ohne lange
zu zögern wurde der Entscheid gefällt, dass die eigentlich
Zweitplatzierte im Mai nach Wien fahren wird.“
Deutsche Leidkultur
Andreas Kümmert hat mit angeblich 78,7 % der Stimmen gewonnen und dann
seinen Sieg seiner Konkurrentin überlassen, für die nur 21,3 % angerufen
haben. Anstatt dies angemessen zu begründen spricht er von psychischer
Überforderung und Unwürdigkeit und beschämt sich und das Publikum, das
für ihn gevotet hat.
Und dabei sieht ausgerechnet er mal nicht aus wie ein Klon. Aus der
Tatsache, dass sich die ahnungslosen Musiker mit auffallend schwachen
Liedern in dieses Business begeben, schließe ich, dass sie schlecht
beraten, wenn nicht sogar unterschwellig gezwungen werden. Vielleicht
war Kümmerts Erfolg zwar einkalkuliert, sollte aber nicht konsequent
umgesetzt werden.
Machen wir uns nichts vor: Er hat sich wie viele andere in Deutschland eben nicht in
die richtige Wiege gelegt, kann nicht auf anglo-amerikanische Herkunft
oder Verwandte im Kanzleramt verweisen, und darf deswegen nicht die
geringste Unterstützung erwarten. Siggi Schullers (Universal) Rat an
Kümmert in der Berliner Zeitung bringt die Rangordnung auf den Punkt: „Geh zwei Wochen in den Wald und schreib neue Songs.“
Die deutschen Eurovisionssieger sind schon seit Jahren nur noch ein Fall für den Verbraucherschutz
Aber auch der Verbraucherschutz scheint in den Gremien des
Öffentlich-Rechtlichen keine Stimme mehr zu haben. Dass das Publikum um
seine Telefongebühren geprellt wurde, ist egal, Hauptsache die Konzerne
haben sich wieder untereinander bedient. Auch von den Medien ist keine
Unterstützung zu erwarten. Berechtigte Kritik wird in der Berliner
Zeitung wie folgt verzerrt: „Noch gibt es niemanden, der [den
Betrogenen] widersprechen mag, offenbar ist ein solch spektakulärer
Ausgang beim Wettbewerb – weder national noch international – überhaupt
vorgesehen. Auch aus der inzwischen 60-jährigen Festivalgeschichte ist
kein vergleichbarer Vorfall bekannt geworden, also nichts, woran man
sich orientieren könnte.“
Nichts, woran man sich orientieren könnte…? Wirklich nicht? Wie wäre
es mit Fairness, Gerechtigkeit, Wettbewerb, Wahlen, Vielfalt,
Transparenz...?
Finnland wird uns beim nächsten ESC mehrere Debüts bescheren. Wir werden mit 1 1/2 Minuten das kürzeste Lied hören, dass jemals beim ESC präsentiert wurde. Wir
werden zum ersten mal knallharten Punk hören. Wir werden zum ersten Mal
Interpreten mit Down-Syndrom auf der Bühne erleben. Wer Lordi seinerzeit
als Provokation empfunden hat, dem dürfte es bei der Band PKN und ihrem Song "Aina mun pitää" (I always have to) die Sprache verschlagen
Nachdem ich mich auf diversen ESC-Portalen umgesehen habe kann ich
sagen, dass es jede Menge sprachloser Fans gibt, und ich gehörte dazu.
Wer nicht durch nahestehende Personen oder professionell mit behinderten
Menschen zu tun hat, ist zunächst ratlos, wie dieser ESC-Beitrag
einzuordnen ist. Aber die Tatsache, dass diese Band mich überhaupt zum
Innehalten zwingt, kann nicht verkehrt sein. Und so befragte ich google
nach dieser Band.
In der finnischen Vorentscheidung am 28.02.2015 haben sie sich gegen
viele gute und originelle Musiker und Musikstücke durchgesetzt.
Schließlich ist die Band in Finnland nicht unbekannt. PKN steht für
Pertti Kurikan Nimipäivät (Pertti Kurikkas Namenstag) und der 1956 in
Finnland geborene Pertti Kurikka ist Kopf und Songschreiber der Band und
spielt Gitarre. Als Autor hat er bereits 2011 eine Reihe Gruselgeschichten veröffentlicht. Auch tritt er als eine Art Drakula auf. Seine Kunst ist direkt, sie dreht sich meist um Alltagsfrust und Höhen und Tiefen des Zusammenlebens.
Sänger der Band ist Kari Aalto, am Schlagzeug spielt Toni Välitalo,
den Bass spielt Sami Helle. Da Sami schon in den USA und Frankreich
gelebt hat, übernimmt er schon mal die Rolle des Übersetzers für die
Band bei Interviews. Hier ein Interview der BBC mit Sami Helle.
Auf youtube findet man eine Menge Clips von ihnen, u. a. eine 1 1/2 stündige Dokumentation
aus 2012, diese leider nur in finnischer Sprache. Sie können bereits
eine Karriere mit vielen Live-Auftritten und Touren durch Europa
vorweisen. Sie haben bereits EPs und 2012 ein Album mit dem Titel "Kuus kuppia kahvia ja yks kokis" veröffentlicht.
Nach Conchita Wurst werden dieses Jahr PKN die Grenzen der Toleranz herausfordern
Bei einigen haben sie bereits jetzt schon die Toleranzschwelle
überschritten, deren Kritik kommt aber als Besorgnis daher, z. B. dass
hier die Behinderten zum Auslachen vorgeführt werden. Dreiste
Gegenfrage: Werden die anderen das nicht auch?
Ich mag ihren Punksong. Er ist mir mit 1 1/2 Minuten eher etwas zu
kurz. In der Dokumentation hört man, dass sie auch melodischere und
eingängigere Stücke spielen. Dass sie sich beim ESC für die
aggressiveren Töne entschieden haben, ist vielleicht kein Zufall. Der
Kontrast zwischen die auf Perfektion getrimmte und in beinahe
narzistischer Selbstbespiegelung verharrende ESC-Welt zum ehrlichen und
direkten Punk von PKN könnte krasser nicht sein. Das erzeugt automatisch
ein Schmunzeln.
Ich würde es gut finden, wenn beim Finale in Wien Conchita Wurst den Siegerpokal an PKN überreicht.
Der Text ihres Songs:
I always have to clean
I always have to do the dishes
I always have to work
I always have to go to the doctor I am not allowed to go to the computer
I am not allowed to watch television
I am not allowed to see my friends I always have to be at home
I always have to do chores
I always have to eat well
I always have to drink well I can’t eat candy, drink soda,
I can’t even drink alcohol I always have to rest
I always have to sleep
I always have to wake up
I always have to shower