Sonntag, 3. März 2013

Das Publikum hat keine Lobby

Gerne würde ich hier über die ersten bekannten Beiträge zum ESC 2013 schreiben, aber dafür sind die Beiträge zu schlecht. Bis auf wenige Ausnahmen überbieten sich die Länder genau wie 2010 und 2011 in Einfallslosigkeit. In den Vorentscheidungen treten durchaus interessante Interpreten mit unterhaltsamer Performance auf, die Siegerlieder jedoch sind von einer aggressiven Schlichtheit.

Beispiel Finnland: Statt der jungen Metalband Arion bekommen wir in Malmö Krista Siegfried geboten.

Beispiel Estland: Wochenlang polarisierte die Punkband Winny Puhh das Publikum, am Schluss gewinnt nicht mal ein nettes Lied von Körsikud, sondern ein langweiliges Stück, das dem finnischen in seinen leeren Akkorden und abgedroschenen Kadenzen verdammt ähnlich ist. Diese Beispiele könnte ich mit Island, Spanien, Armenien, Bulgarien, Malta, Schweiz, Österreich, Belgien etc. fortführen.

Im folgenden Text möchte ich die Abstimmungsmodalitäten zur Diskussion stellen mit der provozierenden Frage: Zu welchem Zweck wird das europäische Publikum jedes Jahr in eine Show eingebunden, in der es über Lieder und Interpreten abstimmt, die die Welt nicht braucht?

„Es kommt nicht darauf an, wer was wählt, sondern wer am Schluss die Stimmen auszählt.“ In fast 15 Jahren intensiver Beobachtung konnte und wollte mir niemand die folgende Frage beantworten: Wer kontrolliert eigentlich diese Auszählung? Was ist das für eine Mitbestimmung, wenn das Publikum keine Transparenz und Kontrolle hat, ja, es nicht einmal einfordert?

Bekanntermaßen sind die Ergebnisse einer Publikumsbefragung bei einem Musiktest bzw. Musikwettbewerb nur bedingt Ausdruck von musikalischen Präferenzen. Man misst damit in erster Linie menschliches Verhalten. Ohne Kontrolle und Transparenz sind dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Dass der ESC uns Deutschen als ein nicht ganz Ernst zu nehmender Tralala-Wettbewerb verkauft wird, erscheint mir Kalkül, damit keiner genauer hinschaut. Denn immerhin lässt man sich diesen Tralala-Wettbewerb jedes Jahr 2–3-stellige Millionensummen kosten. Um so bedenklicher auch die Tatsache, dass es dazu absolut keinen Musikjournalismus gibt. Man findet ausschließlich PR-Texte, die von Fans massenweise multipliziert werden. Mit der Einführung des Telefonvotings in den 90er Jahren hat man diesen Fans Akkreditierungen und billige Sitzplätze in den ersten Reihen (seit diesem Jahr nur noch Stehplätze) zur Verfügung gestellt, die Fans werden diese kleinen Geschenke natürlich nicht mit kritischen Fragen aufs Spiel setzen.

Deutsche, Hände weg vom Telefon!
Beispiele für Missbrauch konnte man in den letzten Jahren in Deutschland studieren. Seit 2008 fasst der NDR seine Zielgruppe immer enger, sie heißt auf keinen Fall mehr Europa. Thomas Schreiber vom NDR lässt keine Gelegenheit aus, einen Keil zwischen ost- und westeuropäische Staaten zu werfen. Bislang beispiellos in der Geschichte des ESC war die politische Hetzkampagne gegen den musikalischen Konkurrenten Aserbaidschan (gab es nur in Deutschland und in abgeschwächter Form in Schweden!). Wer so eine Kampagne mit politisch nicht legitimierten Menschen aus der Unterhaltungsbranche, im Rahmen eines Tralala-Wettbewerbs, beauftragt und monatelang in überregionalen Medien verbreitet, will auch eine Erfolgsmessung. Da liegt es nahe, sich die Telefonabstimmungen genauer anzuschauen. Folgende Fragen könnte die Auswertung beantworten:

Wie viele Leute waren im Vergleich zu den Vorjahren noch bereit für Aserbaidschan anzurufen?
Für wie glaubwürdig hält man die deutsche Berichterstattung?
Wie erfolgreich lassen sich Dispositionen und Verhalten durch die Medien steuern?

Die Aserbaidschaner sind 2009 sogar noch einen Schritt weiter gegangen und haben Gebrauch gemacht von der Vorratsdatenspeicherung. Sie haben sich diejenigen vorgeladen, deren Abstimmungsverhalten ihnen nicht genehm war. Achtung: Solange es in keinem Land Transparenz gibt, ist moralische Empörung darüber nicht der Politik, sondern nur dem Publikum vorbehalten.

Interessant ist für mich auch die Tatsache, dass die Türkei dieses Jahr nicht am Song Contest teilnimmt, was mit ungerechten Abstimmungsmodalitäten begründet wird. Die deutschen Multiplikatoren deuten dies als einen beleidigten Rückzug, da die Türkei mit der Wiedereinführung der Jury Punkteverluste hinzunehmen hatte. Ich halte dagegen, dass es die Türken genauso gut stören könnte, wenn die Deutschen Jahr für Jahr das Verhalten der türkischstämmigen Mitbürger studieren... Alles fängt unverbindlich und im Spaß an, aber nach jahrelanger Beobachtung wundert es mich offengestanden, dass diese Publikumskontrollen und Auswertungen auf internationaler Ebene überhaupt noch geduldet werden.

Turkey 12 points, Russia 12 points...
Und jetzt die Begründung, warum man zumindest beim ESC nur zum Teil musikalische Präferenzen misst und wie man mit einem Tralala-Wettbewerb politisch Stimmung machen kann:
Von 1956 bis 1997 wurde der Sieger intern durch Juroren ermittelt. Seit 1997 hat man schrittweise das Telefonvoting eingesetzt, das dann einige Jahre später die Juroren vollständig ablöste. Dabei stellte sich heraus, dass Menschen mit Migrationshintergrund gerne und oft für ihre Heimatländer anriefen, wodurch das Ergebnis in manchen Ländern sehr vorhersehbar wurde: Turkey 12 points, Russia 12 points... Das einzig Positive an diesem Phänomen war, dass die Beiträge der so begünstigten Länder immer besser wurden. Der Contest 2007 war zwar für ESC-Verhältnisse von hoher Qualität, aber Westeuropa spielte darin keine Rolle mehr.

Um hier gegen zu steuern, wurde - vor allem auf Drängen der Deutschen - die Jury wieder eingeführt. Und damit begann zugleich der politische Missbrauch. Man hätte ja den Rückschluss ziehen können, das musikalische Niveau westeuropäischer Beiträge zu erhöhen. In Deutschland hätte man sich der Aufgabe stellen können, Menschen mit Migrationshintergrund mehr in die Welt des Boulevard, des Schlagers, der volkstümlichen Musik und in die Vorentscheidungen zu integrieren (in anderen Ländern üblich).
Aber das Ergebnis wird nicht musikalisch, sondern ausschließlich politisch interpretiert. Und statt Integration machen die Deutschen genau das Gegenteil: Sie schüren Vorurteile, indem sie den Migranten und ihren Heimatländern Betrug vorwerfen, der nur von autoritären Experten begrenzt werden könne. Sind aber die Mehrfachanrufe wirklich Betrug?

Da ALLE Teilnehmerländer zum Einsatz einer Expertenjury verpflichtet wurden, wurden - zumindest auf der Ebene der Organisatoren – aus „Feinde“ wieder Komplizen. Diese sogenannten Jury-Experten sind nämlich nicht weniger Interessen geleitet als das Publikum. In den meisten Fällen handelt es sich um Vertragspartner eines amerikanischen Major Labels. Sie scheinen den Contest als eine PR-Maschine aufzufassen, bei dem der Sieg Beliebtheit und Qualität vortäuscht. So kann man wunderbar Ladenhüter und Nichtskönner verramschen – oder sich im kleineren Kreis absprechen und politisch motiviert abstimmen.

Bei so unterschiedlichen Ansätzen und Interessen hätte man mindestens 2 Sieger, einen Publikums- und einen Jury-Sieger, benennen müssen. Stattdessen wird das Publikumsergebnis mit dem Jury-Ergebnis verrechnet. Die Abstimmungsprozedur ist wie folgt: Erst wird das Publikum zum Anrufen animiert, es zahlt – auch bei Mehrfachanrufen – jeden seiner Anrufe und kauft sich symbolisch seinen Beitrag. Damit verdienen Telefonkonzerne und Rundfunkhäuser nicht schlecht. Danach wird das Ergebnis dann aber von der Jury gekippt. Das ist meiner Meinung nach Betrug und als Feedback für Musiker und für die europäische Musikwirtschaft sinnlos. Wozu also das Ganze?

Die Erfolge der so ermittelten Sieger wirken auf mich jedes Jahr wie Hütchenspielertricks. Mag man bei den 3 Minuten im Finale noch vom Trickreichtum fasziniert sein, lässt sich diese Faszination nicht mit Titelverteidigung, Preisverleihungen, Charterfolgen und Zwangspräsentationen in Dauerschleife wiederholen. Mir kommen die ESC-Helden wie Landplagen vor; sie profitieren ausschließlich von einem maschinenhaften, hermetisch abgeriegelten Medienindustriekomplex, der jede Frage, jede Kritik und jeden Zweifel an sich nieder walzt.

Das Publikum hat keine Lobby.
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