Lissabon, 05. März 2011, Festival da Cancao, Vorentscheidung zum Eurovision Song Contest. Aus einer Auswahl von 12 Beiträgen gewinnt die Band Homens la Luta mit dem Lied „A Luta é Alegria“. Etwas verblüfft war ich schon: Ganz nett, aber bei welcher Altkleidersammlung sind die wohl gewesen...? Die offiziellen Juroren waren gegen diesen Beitrag, aber das Fernsehpublikum hatte massiv dafür gestimmt.
Die Begeisterung des Publikums für diesen Beitrag verstand ich nicht. Dann gab es aber ein paar untrügliche Zeichen, die meine Aufmerksamkeit weckten, z. B. ihre Werbefotos, die sich stilistisch an russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts orientieren. Ihr Promo-Video für den Eurovision Song Contest beseitigte jeden Zweifel, die Band ist im Kontext der jüngsten Demonstrationen einzuordnen:
Ich recherchierte und fand folgenden Text im Blog "kritische Massen": „Wenn irgendeinem drittklassigen Promi ein Pickel auf der Nase waechst, ist das den freien deutschen Medien allemal eine Schlagzeile wert. Nicht so, wenn in Lissabon 300 000 Menschen demonstrieren. Das wird unter "ferner liefen" erwaehnt, wenn ueberhaupt. So werden Weltbilder gemacht. Picklige. Letzten Samstag erlebte Lissabon eine der groessten Demonstrationen seiner Geschichte. Sie richtete sich gegen die "Sparmaßnahmen" der sozialdemokratischen Regierung, mit denen die Krisenkosten nach den Vorgaben der EU auf die Bevölkerung abgewälzt werden sollen. Vorausgegangen waren in den letzten Wochen und Monaten zahlreiche Streiks in praktisch allen Wirtschaftssektoren und eine Vielzahl kleinerer Demonstrationen und Kundgebungen im ganzen Land.“
Und genau darauf will der diesjährige Contest-Beitrag aufmerksam machen. Portugal droht durch die Folgen der Finanzkrise ins Elend zu zurückzusinken, Arbeitsrechte sollen abgeschafft, Streikrechte eingeschränkt werden, damit das aufoktroyierte „Verarmungsprogramm“ durchgeprügelt werden kann. Besonders betroffen fühlt sich Portugals junge Generation. Rund 300.000 Portugiesen unter 35 haben keine Arbeit (fast die Hälfte aller Arbeitslosen in Portugal), viele machen unbezahlte Praktika oder arbeiten bestenfalls freiberuflich, letztere waren von den letzten Steuererhöhungen am meisten betroffen.
Musikalisch wurde dieser Protest der „Verlorenen Generation“ zunächst von der Band Deolinde initiiert, ihr Lied „Parva Que Eu Sou“ bringt die Probleme deutlich auf den Punkt: „Was bin ich doch für ein Narr, und wie dumm ist eine Welt, in der man studieren muss, um schließlich doch nur ein Sklave zu sein...?“
An den Demonstrationen nahm die Band Deolinde nicht teil. Vielleicht lag es an ihrer Musik, die zumindest in dieser Form nicht Demo-tauglich ist. Vielleicht lag es aber auch an dem Druck, denen die Protestierenden mitunter ausgesetzt sind. Vielleicht haben sie es auch einfach mit der Angst zu tun bekommen: Schließlich liegt Nord-Afrika näher als das übrige Europa und es wäre ja nicht ganz unmöglich, dass der Funke des Aufstandes auf Portugal überspringt. Und so ergriff die politische Satire-Band Homens da Luta mit dem Lied „Der Kampf ist Freude“ die Gunst der Stunde.
Wiederholt sich Geschichte?
Lissabon, 24.04.1974. 22:50 Uhr. Der portugiesische Rundfunk spielt den portugiesischen Eurovision-Song-Contest-Beitrag von 1974, das Liebeslied "E depois do Adeus" (Nach dem Abschied) von Paulo de Carvalho. Dies war das Signal für die aufständischen Truppen, nun begann der Marsch nach Lissabon mit dem erfolgreichen Ziel, Portugal von der Diktatur zu befreien. Gegen 00:30 spielte das Radio „Grandola, Vila Morena“ (Grandola, braungebrannte Stadt) des anti-faschistischen Protestsängers Zeca Alfonso, dieses Lied wurde schließlich zur Hymne der „Nelkenrevolution“ - und wird auch heute noch gesungen.
Es wäre also nicht das erste Mal in der Geschichte des ESC, dass ausgerechnet ein portugiesischer Song-Contest-Beitrag von der Sehnsucht nach einem besseren Dasein handelt, und dann tatsächlich große Umwälzungen hervorbringt. An diesen erfolgreichen Protest, an dieses Stückchen ESC- und Musikgeschichte wollen Homens da Luta erinnern. Grundsätzlich besteht die Band nur aus zwei Personen, Vasco and Nuno "Jel" Duarte, die je nach Projekt von unterschiedlichen Musikern begleitet werden. Beim Song Contest sind Celina Da Piedade (Akkordeon), Tania Lopes (Percussion), Rui Rechena (Bass) und Hugo Osga (Flöte) mit von der Partie. Ihre Kostüme sollen humorvoll unterschiedliche Gruppierungen der Gesellschaft darstellen: Intellektueller, Soldat, Fischer, Feuerwehrmann, Bauer, Krankenschwester, Hirte, Arbeitsloser oder Metallarbeiter.
Mit diesem Hintergrundwissen bekomme ich eine andere Einstellung zum Lied. Bei der Ignoranz der deutschen Medien gegenüber den Problemen der europäischen Bevölkerung ist es schon fast zwingend notwendig, dass die portugiesische Bevölkerung andere Wege sucht, um auf ihren Protest aufmerksam zu machen. Es ist übrigens der zweite Versuch der Band, mit ihren Satire-Songs am Song Contest teilzunehmen, letztes Jahr wurde ihr Lied "Luta assim nao da" (In dieser Weise kann der Kampf nicht weiter gehen) disqualifiziert.
Es ist klug, die Botschaft in Satire zu verpacken und – wie ich hoffe – die portugiesische Sprache beizubehalten. So entzieht es sich geschickt dem Vorwurf der Agitation und der Propaganda und widersetzt sich zugleich der kulturellen Gleichschaltung im Neoliberalismus und der Dominanz der US-Musikindustrie. Ob dieses Massenlied überhaupt ein politisches Lied ist, entscheidet sich erst im Kopf der Zuhörer.
Sonntag, 3. April 2011
Homens da Luta für Portugal – „Macht verrückt was euch verrückt macht!“
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