Zentraler Bestandteil des ESC sind Abstimmung und Platzierung der Lieder. Mit Punktetabellen zum ESC könnte man Regale einer Bibliothek füllen. Gespräche über Punktevergabe und Platzierungen bestimmen die Fan-Kommunikation.
Bis in die 90er wurde man als Fan dafür mitleidig belächelt und musste sich den Vorwurf verkürzten Denkens und Wahrnehmens gefallen lassen. Mittlerweile haben sich Themen zu Ratings, Rankings und Votings längst in allen Bereichen bürgerlicher Kultur etabliert, und das sogar, ohne dass die Validität der Rankings angezweifelt wird. Ob Wirtschaft, Politik oder Unterhaltung, überall legen Rankings Bewertungen über Popularität oder Relevanz fest.
Wie kommen Rankings zustande?
Die Wählerschaft beim ESC setzt sich aus Juroren und Publikum zusammen. Letztere werden mittels Telefon- oder Online-Voting befragt. Seit 2004 gehen die Abstimmungsergebnisse aller Länder beim deutschen Unternehmen Digame ein, diese errechnet die kombinierten Resultate, kontrolliert wird sie von 2 unabhängigen Kontrolleuren des Unternehmens PWC.
Von der PWC unbeachtete Schwachstellen des Votings sind z. B. „Mehrfachteilnahme“ oder „unbekannte Motivation“ im Publikum. Erst recht nicht hinterfragt wird, dass der Wettbewerb durch ungleiche Finanzierung oder durch die Monopolstellung der Major Label und Produktionsfirmen schon im Kern untergraben wird. Monopole simulieren bestenfalls einen Wettbewerb und das Fehlen von Konkurrenz wiederum bewirkt einen Mangel an natürlicher Kontrolle.
Rankings als Glaubenssystem des Mainstreams
Im Pop-Mainstream wird finanzielle Intransparenz und unvollständige Konkurrenz nicht hinterfragt. Wenn Rankings überhaupt hinterfragt werden, geht es meist um die Aufdeckung des Fehlverhaltens in der Wählerschaft. Nur in selteneren Fällen wird den Organisatoren Schummelei nachgewiesen, wie beispielsweise dem ZDF bei der Show „Deutschlands Beste“ in 2014. Das ZDF hatte eine Top Liste der beliebtesten Deutschen erstellt, diese Liste erwies sich im Nachhinein als gefälscht. Anstatt sich schützend vor die Belegschaft des ZDF zu stellen und einzugestehen, dass Rankings bestenfalls als Unterhaltung einzustufen sind, ging es dem Vorsitzenden des ZDF-Fernsehrates Polenz nur um die Rettung der Glaubwürdigkeit von Rankings. Er nutzte den „Betriebsunfall“ als Druckmittel gegen ZDF-Mitarbeiter und „kündigte strukturelle Konsequenzen an.“
Rankings stehen für eine schleichende Sprachlosigkeit
Musikfans kennt man für gewöhnlich als Fans eines bestimmten Genres oder Musikers. Durch die Masse an TV-Musikwettbewerbe werden Konsumenten zunehmend als Liebhaber eines bestimmten TV-Formates angesprochen. Dies von einem zusammengewachsenen Industriekomplex aus Musikbusiness, Telekommunikation und Rundfunk
(wahrscheinlich auch Militär), der vor allem in Castingshows von der Wiederholung seiner abgedroschenen Produkte (Cover-Versionen, Tantiemen) und Phrasen lebt. Mit der immer gleichen Theatralik inszeniert befördert dieses TV-Format den Wunsch nach kruder hierarchischer Hackordnung mit autoritären Jurys. Diese Jurys machen den Musikjournalismus überflüssig. Statt dass dem Konsumenten Musik oder musikalisches Handwerk erklärt werden, beurteilen die Juroren in emotionalisierenden, leicht nachvollziehbaren Worten Wohlverhalten.
Rankings stehen für Entprofessionalisierung
Auf Seiten der Kandidaten wie der Wählerschaft werden Profis und Laien in einen Topf geworfen. Beim ESC (auch in anderen Castingshows) landen selbstbestimmte Musikprofis auffallenderweise oft hinten. Ein paar Beispiele: Georgien, Bulgarien, Mazedonien, Albanien, Deutschland (San Marino). Der größte Teil der Kandidaten besteht aus „Straßenpassanten“, sog. Eintagsfliegen, das gilt sogar für die „erfolgreichen“ Erstplatzierten.
Auch bei der Bewertung werden die Stimmen des laienhaften Publikums mit denen der Fachjury verrechnet, obwohl beide Gruppen nach völlig verschiedenen Modalitäten werten. Die Fachjury muss ca. 40 gleichförmige 3-Minuten-Stücke in ein Ranking bringen. Diese Forderung hat mit Bewertung von Musik nichts zu tun. Es sind dann auch ausgerechnet regelmäßig musikalisch unprofessionelle, politisch parteiische Journalisten wie Stefan Niggemeier, die den Juroren aus ihrem Ergebnis einen Strick drehen wollen. Die logische Konsequenz dieser umfassenden Entprofessionalisierung wäre, dass Juroren ihre Ergebnisse mit einem Zufallsgenerator ermitteln.
Welcher Zynismus sich hinter dieser Entprofessionalisierung und Zerstörung von Maßstäben verbirgt, wurde auch bei der Berichterstattung zur ZDF-Panne deutlich. Allzu gerne wurde darauf hingewiesen, dass Germany's Top-Politician Angela Merkel dem talentbefreiten Castingsternchen Lena oder der trinkfesten Moderatorin Ina Müller nicht das Wasser reichen konnte. Dass allerdings das ZDF ausgerechnet die Bundeskanzlerin auf Platz 1 schwindelt, sieht schon sehr nach Bananenrepublik aus.
Rankings stehen für zerstörte Maßstäbe
Wie bei allen anderen Castingshows gibt es auch beim ESC keine ausformulierten Anforderungs- und Bewertungskriterien, es wird erwartet, dass nach TV-Tauglichkeit, globalen Geschmackskriterien oder vage nach Beliebtheit geurteilt wird. Das Dogma der Rankings setzt voraus, dass es erstens keine überprüfbaren Maßstäbe gibt, und dass zweitens weder Konsumenten noch Kandidaten diese Maßstäbe vermissen.
Dieser ins Ideal erhobene Missstand der fehlenden Maßstäbe wurde von Stefan Raab 2010 exemplarisch vorgeführt in der Sendung USFO. Ständig hob er hervor, wie perfekt Lena Meyer-Landrut ihr musikalisches Unvermögen hinter „Anmut und Natürlichkeit“ zu verbergen wusste. Obwohl die Show als anspruchsvoller Musikwettbewerb beworben wurde, hatten weder die Leistung des geschickten Verbergens noch die Beurteilung dessen etwas hat mit musikalischem Handwerk zu tun. Mit Argumenten wäre diese „Leistung“ dem Publikum nicht in 2 Monaten zu vermitteln gewesen. „Sprachlose“ und nicht-überprüfbare Rankings hingegen können Willkür, Hochstapelei und Dilettantismus blitzschnell in eine Erfolgsstory verwandeln.
Rankings fördern Angebermentalität und Unmoral
Das Fehlen objektiver Kriterien kann in Verhöhnung von Profis und Publikum ausarten. Dass Irritation und Verhöhnung zum Ranking-Kalkül gehören, belegte dann auch der angeberische und spottende Auftritt von Raab und Meyer-Landrut bei der PK in Oslo sowie das schadenfreudige Gelächter im Publikum.
In den Konzepten der Musikindustrie sollen Konsumenten offensichtlich keinen Wert mehr auf die „Credibility“ der Musiker legen. Von ESC-Fans hört man dementsprechend immer öfter die Phrase „Es kommt nur auf das Lied an“. Diese Einstellung ist gegenläufig zum Modell des Crowdfunding, wo Musiker auf Vertrauen und Bindung ihrer Fans setzen.
Rankings befördern Konformismus
Die Masse an Wettbewerbe erzeugt offensichtlich keine Vielfalt. Durch die Monopolstellung der Musikindustrie beim ESC dominiert amerikanisches Biedermeier. Nach Aufhebung der Sprachenregelung werden die meisten Stücke in in englischer Sprache vorgetragen. (Lt. Wikileaks plant Sony sogar, zukünftig nur noch englischsprachige Musik zu veröffentlichen: „The record company will want to sell off the local repertoire or spin out the local labels and focus on English language repertoire globally […].")
Dass es unter vielen ESC-Fans den Wunsch nach Wiedereinführung der Sprachenregelung und Unterstützung des Europäischen Musikmarktes gibt, weiss man nur, wenn man tagtäglich in den Social-Media-Gruppen unterwegs ist. In der medialen Öffentlichkeit werden solche Forderungen ignoriert, dies sogar von den Alpha-Fans in den ESC-Vereinen. Gerade an den Äußerungen in Zitaten oder eigenen Blogtexten der meist schwulen Alpha-Fans ist abzulesen, dass sie sich den Forderungen der amerikanischen Musikindustrie vollständig unterworfen haben.
Rankings erzgeugen Geschmacks- und Gesinnungsdiktatur
Wer die Glaubwürdigkeit von Rankings hinterfragt, wird der Verschwörungstheorie bezichtigt.
Eine bessere Platzierung bekommen jene, die die Rankings ernst nehmen und mit Tabellen, Kurvendiagrammen und Schaubildern analysieren und auswerten. Erhört werden sie allerdings nur, wenn ihr Fleiß das „richtige“ Ergebnis bestätigt. So hatten Fans von Wiwibloggs nach dem ESC 2015 die von der EBU für ungültig erklärte Wertung Montenegros mit statistischer Methode zwar widerlegt: „In fact, I’d call Montenegro’s vote a more accurate measure of the acts than either of Austria, Armenia, Azerbaijan, Germany, Moldova and Romania.“ Ihre Untersuchung bleibt ohne Folgen.
Platz 1 nehmen die Fans ein, die die Rankings bestätigen und verteidigen. Sie fordern häufig Regelverschärfungen und den Ausschluss bestimmter Länder. Das soll Strenge, Glaubwürdigkeit und Objektivität vortäuschen, ihre aufgespürten asymmetrischen Beziehungen zeigen aber stets das gleiche Ost-Westgefälle und entpuppen sich als leere, emotionale Verbalattacken.
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Donnerstag, 20. August 2015
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