Am 19. und 21. Dezember 2013 fand in der türkischen Stadt Eskisehir
der Wettbewerb Turkvision statt, diesmal mit richtig internationalem
Flair und medienwirksamer Promotion.
24 Teilnehmer aus verschiedenen turksprachigen Ländern und Regionen
traten gegeneinander an und suchten das beste Lied und die beste Stimme
der türkischen Welt.
Die Idee eines solchen Contestes ging von den Türken aus, es wird
aber betont, dass Turkvision trotz Ähnlichkeit mit dem ESC nicht als
eine Konkurrenzveranstaltung zu verstehen ist, auch wenn nun Länder wie
Bosnien-Herzegowina, Rumänien, Zypern, Ukraine, Mazedonien,
Weissrussland, Russland oder Aserbaidschan an beiden Veranstaltungen
teilnehmen. Sinn und Zweck des Wettbewerbs sieht man vor allem in der
Zusammenführung und Weiterentwicklung der türkischen Kultur und in der
Schaffung eines gemeinsamen kulturellen - und ich gehe mal davon aus -
auch eines musikwirtschaftlichen Bereiches.
Mit Turkvision konnte man als ESC-Fan mal seine Geographiekenntnisse
aufbessern und Musiker kennen lernen, von denen man sonst nie etwas
gehört hätte. Die Liste der teilnehmenden Regionen, Länder und Musiker einschließlich Wertungsergebnisse können auf Wikipedia nachgelesen werden.
Die Darbietung der Vielfalt türkischer Musikkultur wurde dann
allerdings nur durch die Gesamtheit der 24 Teilnehmer im Semifinale voll
eingelöst. Die Jury neigte eher dazu, schon im Semi-Finale das
Besondere ihrer Kultur auszusortieren. Ob belustigend oder bewundernd,
in einem waren sich selbst konservative ESC-Fans einig: So viel
musikalische Abwechslung und viele gute Interpreten bietet der ESC nicht
(mehr). Vor allem die Sängerinnen aus den russischen Regionen Tuva,
Saylık Ommun, und Kemerowo, Çıldız Tannakeşeva, hätten unbeding ins
Finale gehört. Sie präsentierten eine Gesangsdarbietung, die bei uns mit
Begriffen wie „Schamanengesang“ und „Klangmeditation“ bestenfalls der
Kategoie esoterische Lebenshilfe oder (naive) Musiktherapie zugeordnet
werden.
Beide Sängerinnen scheinen den die Technik des Kargyraa-Gesangs zu
beherrschen. Das ist beim suboptimalen Sound der Videos zwar nicht klar
zu hören, aber die von ihnen gesungenen schnarrend klingenden Borduntöne
filtern Unter- oder Obertöne meist automatisch heraus.
Bei Saylık Ommun
aus Tuva dürften sie sich gut mit der Backgroundmusik vermischen. Sie
lieferte über mehrere Oktaven mit Glissandi, Verzierungen aller Art,
Beatboxing, Growling und Joik ein Feuerwerk der Klanggestaltung.
Çıldız Tannakeşeva aus Kemerowo ließ kurz eine ganz andere
Vorstellung von Musik durchschimmern, die sich an die Natur, z. B. an Vogelgezwitscher,
orientiert. Wenn überhaupt noch in der Musik experimentiert wird, dann
im Sound. Hätten die Juroren schon mal von der populären Jazz- und
Stimmperformerin Meredith Monk
aus den USA gehört, die sich offensichtlich von diesem Gesang hat
inspirieren lassen, hätten sie diese Beiträge vielleicht als besonders
avantgardistisch gewürdigt
Alina Sharipzhanova aus Tatarstan gab sich gefälliger und führte vor,
dass, wer die asiatisch-orientalischen Gesangstechniken beherrscht, so
nebenbei auch R&B singen kann. Ihr Lied "Üpkälämim" (I'm Not Resentful) erreichte immerhin Platz 4 im Finale.
Die drittplatzierte Ukrainerin Fazile Ìbraimova
setzte zunächst auf Optik, indem sie sich scheu und Ganzkörper
verschleiert auf die Bühne tragen ließ, dann aber im Verlauf des Songs
immer temperamentvoller und freizügiger wurde. Auch sie betörte mit
einer kraftvollen tiefen Stimme.
Auf andere Weise beeindruckend auch der Auftritt der Weissrussin Gunesh Abbasova,
die schließlich knapp Zweite wurde. Wenn Weissrusslands Interpreten
beim ESC stets Englisch gesungene Popmusik nach dem Motto „Augen zu und
durch“ präsentieren, stellte sich die Diva Gunesh selbstbewusst wie eine
Dompteurin vor das Publikum. Das war einer der wenigen ausdrucksstarken
Chansons, wo Textverständnis unverzichtbar war. Leider verstehe ich
kein Türkisch.
Ähnlich ausdrucksstark und gut gesungen war der angekündigte
R&B-Mugham-Mix „Sensiz“ des Aserbaidschaners Farid Hasanov. Er hat
jedoch kurzfristig diesen Beitrag gegen Ethnopop ausgetauscht, den er
dann für mein Empfinden etwas „unfertig“ mit Boygroup präsentierte. Das
Kalkül ist allerdings aufgegangen, sein schmissiger Beitrag "Yasa"
(Leben) machte den ersten Platz. Das Lied ist vom gleichen Komponisten, der auch Aserbaidschans Debüt-Lied "Day After Day" in 2008 geschrieben hat.
Und sobald Aserbaidschan einen Contest gewinnt, ist die westliche
Welt - wie man noch am gleichen Abend auf Twitter verfolgen konnte - sofort auf 180.
Auch das Kalkül ist aufgegangen ;-)
Ich habe es als sehr angenehm empfunden, dass die Turkvision das
erste Gebot der christlichen Hemisphäre umging, nämlich dass „Sex
Sales“. Statt nackte Haut viel Folklore und man wurde als Musikpublikum
Ernst genommen. Insofern war die Turkvision doch eine sehr gelungene
Gegenveranstaltung zum ESC.
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