Es gibt eine neue Regelung beim Eurovision Song Contest: Das Land mit den wenigsten Punkten gewinnt. Die diesjährige Auswahl lässt kaum noch eine andere Schlussfolgerung zu. Mit ein paar Ausnahmen scheint die abgegriffenste Nummer, die deprimierendste Schnulze oder die hämischste Geste nicht schlimm genug sein zu können. Bevor man aber die europäischen Länder wegen Geschmacksverirrung oder Boshaftigkeit verurteilt sollte klar sein:
Die Auswahl an Musikstücken beim ESC repräsentiert nicht notwendigerweise die Musikszene der jeweiligen Länder,
sondern eher den Musikgeschmack gebührenfinanzierter, staatsnaher TV-Stationen. Über zweifelhafte Jury-Entscheidungen, Nominierungen und schwacher Vorauswahl kann auch die Publikumsbeteiligung per Telefon nicht hinweg täuschen.
Die niederländischen Fans hat es dieses Jahr so hart getroffen, dass sie mit mehreren Internetpetitionen den Rückzug vom ESC fordern. Im Hinblick auf die hohen Kosten sei eine Teilnahme mit Ladenhütern nicht gerechtfertigt. Wie wahr! Europas TV-Macher scheinen das Interesse an Qualität, Realität und Zuschauer verloren zu haben. Mit einer Ausnahme: Deutschland. Stefan Raab macht dieses Jahr ein Getöse, als wolle Deutschland mal ernsthaft was reißen. Nun ja, nie waren die Chancen günstiger *Ironiemodus aus*.
Besonders in Deutschland sind nämlich die betroffenen TV-Stationen nur noch mit sich selber beschäftigt. Herausgestrichen wird die Kooperation zwischen Öffentlich-Rechtlich und Privat, wobei Raab die Rolle eines Friedensengels zukommt. Ausgerechnet! Raabs nationale Aufgabe war es, für PRO7 die Werbewirtschaft und eine junge, zahlungskräftige Zielgruppe zurückzugewinnen und das angestaubte Branding der ARD aufzupeppen, dies alles im Rückgriff auf den Eurovision Song Contest. Nur Quotenmesser und Marktfetischisten wiesen zwischendurch auf niedrige Einschaltquoten, aber das muss ja niemanden interessieren. Die deutsche Musikszene, die Zuschauer und Fans kamen da leicht mal zu kurz, aber man kann es ja nicht jedem recht machen. Und somit gab es ein
Sparprogramm
Mit Raabs lautstarker Ankündigung aus dem Deutschen Reichstag, für den einmal jährlich stattfindenden Contest einen glamourösen Star zu finden, hätten die Zuschauer mindestens einen Gala-Abend mit viel Prominenz erwarten dürfen. Stattdessen folgte eine Casting-Show mit Kindern aus der Nachbarschaft. Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit war bislang eine der wenigen Lachnummern, die man uns – unfreiwillig – gönnte. Die Show selber war langatmig, dröge, humorlos - und in gewisser Weise irre.
Casting-Shows haben was von „Hitparade für Arme“. Dieses ständige Vorsingen und Abchecken von Gesangstalent bei den Müllers, Meiers, Frekings, Landruts und Lüdenscheids ist ödes Geplänkel. Dass die Kandidaten bei USFO wie Oberstufenschüler inszeniert wurden und auch mal unbekanntere Stücke sangen, machte mich eher skeptisch. Angehende Akademiker mit zahllosen Knicks und verträumten Dankeschööööns nach jeder noch so fragwürdigen Beurteilung werden als vorbildlich gepriesen?
Des Kaisers neuen Kleider
Die behauptete Bereinigung vom Schmuddelimage konnte ich auch nicht erkennen, im Gegenteil. Werden die Zuschauer sonst dazu angehalten, sich über die Sternchen zu amüsieren, haben diesmal die TV-Macher mit ihren Kandidatinnen das Publikum hochgenommen. Beispiel: Lena Meier-Landrut.
Sie kann nicht viel, aber das Wenige bringt sie kokett und kapriziös rüber. Das erinnert an Verona Feldbusch, nur dass das Lachen, Lästern und Staunen, wovon diese TV-Kunstfiguren eigentlich leben – bei USFO verboten zu sein scheint. Stattdessen wird versucht, Lena mit ihren naiven Posen als die Primadonna des Eigensinns zu exponieren. Und das sieht so aus, dass sie mit ungelenken Bewegungen ihre schiefen Töne ausstößt, alldieweil Raab aus seiner körperlichen und psychischen Erregtheit keinen Hehl macht.
Statt nüchterner Urteile beobachtete man seine leuchtenden Augen, Gekicher und verschämte Blicke zur Seite: "Man sitzt hier und ist so ein bisschen bezaubert und alles blüht. [...] Man läuft so ein bisschen Gefahr zum Esoteriker zu werden." (Stefan Raab, ARD, USFO 12.03.2010 20:00 Uhr) Deutlicher: Bei einem selbstbestimmten Auftritt von z. B. Rihanna fände ich solche Lena-Posen noch raffiniert, aber in einer von älteren Männern initiierten Casting-Show mit blutjungen Frauen kommt MANN wohl schon aus reiner Befangenheit nicht über ein Betriebsfest-Niveau hinaus.
Überhaupt lässt sich Eigensinn nicht an Posen, sondern an inhaltlichen Positionierungen festmachen. Dass diese mit dem herkömmlichen TV-Anspruch oftmals nicht kompatibel sind, macht der diesjährige litauische Beitrag deutlich:
Inculto - Eastern European Funk
Kritik einschüchtern
In fast militanter Weise wird beim Projekt USFO versucht, die Wahrnehmung zu irritieren und Maßstäbe auf den Kopf zu stellen. Der Reichstagsauftritt, die Einbindung prominenter Popstars als Jury, die Verpflichtung der ARD-Jugendwellen, ein gewaltiger Online-PR-Rummel und sogar die Vereinnahmung von Fans sollen den „Blick von außen“ im doppelten Wortsinne „unmöglich“ machen. Dementsprechend fühle ich mich als Kritikerin
Lost and Forgotten
Russland buhlt - der neuen Regelung entsprechend ;-) - mit der fast schmerzhaften Zigeunerromanze „Lost and Forgotten“ um den letzten Platz. Der ausgebildete Opernsänger Peter Nalitch mit seiner Rockband sieht in seinen Schlabberklamotten fast nach Randexistenz aus. Bei seinem inbrünstigen Vortrag überbietet er sich dermaßen, dass die Schnulze einen anarchischen Unterton bekommt und vielleicht sogar als heimliche Solidaritätsbekundung mit dem vom TV ausgegrenzten Publikum verstanden werden kann.
Peter Nalitch Band - Lost and Forgotten
Interessanterweise wird die Wahl damit begründet, dass Peter Nalitch kein TV, sondern ein „Internetphänomen“ sei:
“A resource has appeared that gives musicians the possibility to get their music to millions of people without advertising, producers, television or radio,” Nalich told RIA Novosti. “All that matters is whether the musician is good or not, and nothing else.”
Aus: Russiaprofile
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen