Bei Formulierung meiner provokativen Überschrift bemerke ich, dass ich hadere, etwas Kritisches zu schreiben, wenn ich statt Texte zu lesen die Menschen leibhaftig während der Präsentation ihrer Konzepte erlebt habe. Zum einen war die Atmosphäre in der schönen Dachlounge des rbb ausgesprochen angenehm. Auch Sympathie und Empathie schlichen sich ein. Wer wollte dem NDR nach Jahren der Niederlagen nicht mal wieder einen Erfolg gönnen? Aber dann kommt mir in den Sinn, ob die freiwillige Zurücknahme von Kritik nicht auch wieder Kalkül ist… Vor allem, wenn man mit einem Top-Down-Konzept überrumpelt wird, bei dem es um Einbindung von gecasteten Fans in fest reglementierte Prozeduren geht, welche mit Nähe zu Stars und Organisatoren und wahrscheinlich viel kumpelhaftem Geduze Abgrenzung erschwert und emotionale Ausbeutung begünstigt.
Betroffenes und engagiertes Grübeln
Eins ist klar: Vor 25 Jahren wäre diese Veranstaltung in der rbb-Bar ein amüsantes Erlebnis geworden, in der Schwule gewitzelt und gelästert und Transvestiten sich besonders ausgefallen präsentiert hätten. Wahrscheinlich wäre sogar Musik erklungen.
2017 fanden sich ca. 15 ernsthaft interessierte und skeptische Fans zusammen, die als Eurovisionswächter, Musikpolizisten und Toleranz-Blockwarte angesprochen wurden.
Zusätzlich waren ca. 35 zufällig anwesende Bar-Gäste in der Dachlounge. Als ich die Irritation in deren Gesichtern sah, taten mir die Eurovisionsmänner fast leid. Sie sortierten, werteten und besprachen ihre jahrelang gesammelten trockenen Datenmengen zum Telefonvoting, Juryvoting, zu Ratings und Rankings, nur um zu erklären, wie eine Abstimmung organisiert werden muss, damit ein ESC-Sänger und ein 3-Minuten-Pillepalle-Musikstück ermittelt werden, mit denen man beim ESC 12 Punkte bekommt. Ein ahnungsloser Gast fragte mich schließlich kurz vor Schluss:
Ist das hier eine Betriebsversammlung?
Eine Betriebsversammlung, bei der betriebsfremde Menschen in ihrer Eigenschaft als Homosexuelle und in ihrem Hobby Eurovision angesprochen werden, damit sie sich für Belange von privater EBU, Rundfunk, Datananalysefirmen, Musik- und Telekommunikationsindustrie engagieren. Von 15000 Bewerbern will die Datenanalysefirma durch intensives Auswahlverfahren 100 Fans ermitteln. Oder muss ich schreiben „zurück gewinnen“? Neben ahnungslosen Nachwuchs-Fans eben auch jene echten ESC-Fans, die man seit 1998 mit schadenfreudigen Polarisierungs-Strategien und Zensur verprellt hat?
Die 100 ausgewählten Fans werden nicht nur online abstimmen, sondern müssen zu gegebener Zeit auch Vor-Ort-Termine wahrnehmen. Die Reisekosten sollen - glaube ich - erstattet werden, aber von Verdienstausfällen oder Vergütungen wurde nicht gesprochen, womit ich wieder bei der emotionalen Ausbeutung wäre… Und ich gehe davon aus, dass diese 100 auch im Social Media die Werbetrommel rühren werden, und das nicht mit Accounts von NDR, Digame oder Telekom.
Im Gegensatz zu vorangegangenen Meldungen sollen diese 100 ausschließlich Deutsche sein, nun mit der Begründung, dass das deutsche Televotingergebnis fast deckungsgleich mit dem europäischen Endergebnis ist. Nanu! Im krassen Gegensatz zur Abstimmung bei der deutschen Vorentscheidung, wo sie ständig „falsch“ wählen und verlieren, wählen Deutsche also beim ESC repräsentativ? Einen besseren Beleg für die Unsinnigkeit des neuen Konzeptes hätte der NDR nicht bringen können.
Solange die Qualität der Auswahl gedrosselt wird, hat der Wähler keine Chance
Ich befürchte, dass das den auserwählten Teilnehmern vor lauter Euphorie egal wird. Wer überhaupt an solche Abstimmungsmarathone interessiert ist, wird sich ohnehin kaum ein Lied länger als 15 Sekunden anhören. Bei manchen wird es sogar egal sein, ob über Automarken, Steichelzoo oder Musik abgestimmt wird.
Dass mir bei diesem Top-Down-Konzept schließlich die Bezeichnung “Putin‘s Trollfabrik“ einfiel, war auch der Tatsache geschuldet, dass man selbst bei diesem Zusammentreffen ohne Seitenhiebe auf Russland nicht auskam.
Widersprüche und Kritisches zum neuen Konzept
Viele Länder entziehen sich der AbstimmungBeklagt wurde, dass es europaweit zu wenige Anrufer gibt, so dass die Abstimmungen in vielen Ländern nicht als repräsentativ herangezogen werden können. Mit der Feststellung, dass sich die Teilnahme am Telefonvoting überwiegend auf die westeuropäischen Kernländer der Eurovision beschränkt, wurde immerhin (m)eine Verschwörungstheorie zur Realität erklärt: Dass nämlich seit einigen Jahren die Anrufe aller Länder addiert werden, hat nichts mit Spannungsaufbau, sondern ausschließlich mit mangelndem Interesse zu tun.
Gründe sieht man darin, dass in vielen Ländern das Telefonvoting nicht sehr verbreitet und darüber hinaus sehr teuer ist. Damit wird aber unterschlagen, dass viele westeuropäische Telefonvoter nur mit Gewinnen von Geld, Autos, iPhones, Reisen etc. ans Telefon gelockt werden. Zudem unterschied man zwischen Interesse am ESC und am Telefonvoting, was aber nicht weiter belegt wurde. Es könnte sich ja auch um ein generelles Desinteresse handeln.
Was sagen die Digame-Statistiken über europäische Telefonvoter aus?
Der Kern bestehe aus „jungen, Party-affinen, homosexuellen, toleranten Menschen“. Bissig formuliert wäre das nun also die betrogene Gruppe, die lt. Medien von den erfolgreichen russischen, türkischen, slawischen oder armenischen Diasporas jahrelang überstimmt und „beschissen“ wurde.
Das Adjektiv tolerant wurde erstmals 2013 in Bezug zu sexuellen Vorlieben und Aussehen von Conchita Wurst strapaziert und weist darauf hin, dass eben nicht nur Musikgeschmack, sondern tatsächlich Einstellungen und Verhalten gemessen bzw. konditioniert werden. Konditionierung zum einen, indem die Kunstfigur Wurst schon seit Jahren in einem Negativbezug zu Russland gesetzt wird. Konditionierung findet auch im Unausgesprochenen statt: Die Eigenschaft der Toleranz wird positiv besetzt und impliziert, dass die Masse der europäischen Anrufverweigerer einer nicht akzeptablen Intoleranz zugeordnet wird.
Mit Worthülsen wird den deutschen Homosexuellen und rechten LGBT ein hegemonialer Habitus antrainiert
2016 wurde Europa belehrt, dass „Toleranz“ aus humanistischer Sicht schnell zum Etikettenschwindel werden kann. Es gewann nämlich nicht der „tolerant angeschwulte“ Beitrag aus Russland, sondern ein schwerfälliges Lied über Stalin eines ukrainischen Schreihalses. Hier demonstrierten die Juroren größtmögliche Toleranz gegenüber inhumane militärische Anliegen der NATO und Intoleranz gegenüber Russlands Interessen.
Auch Putinphobie wurde während der Präsentation gepflegt, z. B. als es um die Begründung zur Beliebtheit von Conchita Wurst im intoleranten, homophoben Russland ging. Von russischen Telefonvotern wurde sie 2014 auf den 1. Platz und von russischen Juroren auf immerhin den 2. Platz gesetzt. Erklärung: Es handele sich um Anrufer aus den Ballungsgebieten Moskau und St. Petersburg, und diese Städte repräsentieren nicht „Putins Russland“. Ist das so? Oder biegt man sich für Abstimmungsfakes nur passende Erklärungen zurecht?
Wie Ratten im Versuchslabor
Für Verhaltensforscher sicherlich interessant zu untersuchen, unter welchen Bedingungen sich Menschen immer bereitwilliger beliebige und unglaubwürdige Abstimmungen und PR-Märchen nicht nur schön reden, sondern auch noch vehement gegen „Intolerante“, „Ungläubige“ und „Verschwörungstheoretiker“ verteidigen, ohne auch nur einen einzigen Beleg für die Korrektheit der Zahlen vorweisen zu können.
Das schlechte Abschneiden Deutschlands der letzten Jahre
erklärte Thomas Schreiber damit, dass die Musikindustrie falsch vorbestimmt hätte, dass er in Gremien überstimmt worden war, dass Mitarbeiter nicht umgestimmt werden konnten, dass eine anonyme Öffentlichkeit verstimmt gewesen sei, dass Komponisten ihm nicht zugestimmt hätten, dass das Publikum falsch abgestimmt hätte… Eine überzeugende Ausgangsposition für nun noch mehr Abstimmungen bot er damit nicht.
Und solange es keine Transparenz darüber gibt, wer über wen und was in den Hinterstuben der Rundfunkhäuser und Datenanalysefirmen bestimmt, traue ich den Konzepten und Statistiken auch weiterhin nicht.
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