Sonntag, 19. Januar 2014

Ein anderer Eurovision Song Contest ist möglich

Nächstes Jahr feiert der Eurovision Song Contest sein 60-jähriges Bestehen. In diesen 60 Jahren unterlag er immer wieder Veränderungen, meiner Wahrnehmung nach wäre mal wieder ein Relaunch fällig: 

Man könnte mit weniger Teilnehmern pro Jahr wieder mehr Wert auf musikalische Darbietung legen mit - zumindest als Option - einem Live-Orchester. Da der ESC auch von Rundfunkgebühren finanziert wird, sollte im ursprünglichen Sinne eines europäischen Gedankens ein europäischer Musikmarkt mit kleineren Musiklabel oder vertragslosen Musikern gefördert werden. Es ist nicht einzusehen, dass bei dem einzigen europäischen Musikwettbewerb amerikanische Musikkonzerne profitieren. Und warum nicht jedes Jahr nach Art der Darbietung oder Abstimmung gleich mehrere Preise verleihen? 

Die Vorteile der großen Shows sollen nicht unerwähnt bleiben: Sie sind sensationell und haben sehr zur Beliebtheit beigetragen. Viele Shows können mir noch heute Gänsehaut verursachen wenn ich mich nur daran erinnere, sogar live dabei gewesen zu sein. Nur kann ich mir nach Moskau 2009, Düsseldorf 2011 und Baku 2012 keine wünschenswerte Steigerung vorstellen. Schon letztes Jahr wollte man den ESC „downgraden“, das halbherzige Ergebnis aus Malmö wirkte allerdings zweitklassig. Dieses Jahr meldeten sich Länder aus finanziellen Gründen und mangels Publikumsinteresse ab, und schon reagierte die EBU reflexartig mit finanziellen Geschenken und einer Umfrage mit dem Ziel „to make Eurovision 'even greater'“. 

Die letzten großen Veränderungen wurden 1998 vorgenommen. Bei möglichst hoher Teilnehmerzahl gibt es nun mehrere Massenshows mit Publikumsbeteiligung (Telefonvoting). Ich habe es als Verlust empfunden, dass dafür die Sprachenregelung und das Begleitorchester abgeschafft wurden und die Interpreten seitdem Halb-Playback singen. Bedenklich auch, dass die bis dahin skurilen schwulen Fanclubs mit Akkreditierungen und verbilligten Tickets als Multiplikatoren umworben wurden. Dadurch ist es zu einer ausgesprochen langweiligen Einstimmigkeit zwischen ESC-Werbung, Label-PR und der Fankultur gekommen. Wer hier ausschert, muss sogar mit Stigmatisierung rechnen. 

Ich möchte im Folgenden meinen oben skizzierten Vorschlag begründen, indem ich auf die mittlerweile hässlichen Seiten der größenwahnsinnigen Ausrichtung hinweise. Dabei möchte ich mich auf die Musik konzentrieren und einen Satz aufgreifen, der wie eine Doktrin von den Major Label über TV-Stationen bis zum letzten Fan durchgereicht wird: 

"Es kommt nur auf den Song an“ 
Das hört sich als Vorgabe für einen Song Contest zunächst logisch an. Wenn man allerdings bedenkt, dass der ESC als ein europäischer Länderwettbewerb beworben wird, bei dem jedes Land nur einen Song beisteuert, sollte man annehmen, dass diese Songs auch aus den entsprechenden Ländern kommen. Das ist allerdings kaum der Fall. 

Bis 1998 wurden in der Anmoderation den Komponisten und Autoren besondere Andacht geschenkt. Der Dirigent verbeugte sich und dann traten die Interpreten mit Orchesterbegleitung zu technisch relativ gleichen Bedingungen an. Ein Highlight der TV-Geschichte, wenn die einmaligen Live-Auftritte die Studioversion musikalisch weit überragten, wie beispielsweise im Falle Frida Boccara 1969 mit "Un jour, un enfant".

Seit der Abschaffung des Orchesters werden in der Regel Musiker vom jeweiligen Kommentator aus dem Off anmoderiert, weitere Infos werden eingeblendet. Dann folgt der Halb-Play-Back-Act, der vor allem mit Showelementen wie Bühnenrequisiten, Tanzeinlagen, Lichteffekten, Kostümen und Koketterien zu überzeugen versucht. Kommt es dabei wirklich auf den Song an? 

Heutzutage haben solche Länder den Nachteil, die zwar mit hervorragenden Interpreten antreten und mitunter anspruchsvolle Lieder singen, aber leider nicht über ausgefeilte Studiotechnik und Sound-Experten verfügen. Sie holen sich oftmals Unterstützung aus Schweden oder den USA, wirken dann aber doch sperrig gegenüber der leichten Studiokost. Bestes Beispiel liefert Albanien, deren Vorentscheidungen, das „Festivali i Kenges“, den Charme der Song Conteste der 60er Jahre bewahrt haben. Nachdem ihre eigenwilligen Lieder mit guten InterpretInnen - dieses Jahr Hersi Matmuja - mit Orchesterbegleitung und in Landessprache gewonnen haben, müssen sie danach im Studio für den ESC quasi zur Karaokeversion „geglättet“ werden. Dies zum Nachteil der Originalversion, die dahinter verschwindet. 

Diese Abhängigkeiten schaffen Absatzmärkte. Von der Tendenz her sind beim ESC mittlerweile 75% der Lieder aus schwedischer und amerikanischer Produktion, immer größer der Anteil der Lieder, die über amerikanische Major Label vertrieben werden. Das mag in einem Song Contest egal sein, aber mit einem „europäischen“ Liederwettbewerb hat das nichts zu tun. 

20 Jahre Wettbewerbshype und kein Ende in Sicht 
20 Jahre Castingshows mit Coverversionen und Hit-Recycling, mittlerweile auch als Vorentscheidung zum ESC... Eine Ideenschmiede für „den Song, auf den es ankommt“, stelle ich mir anders vor. Mit dem Wettbewerbshype als Vermarktungsstrategie werden mittlerweile ranzige Geschäftsmodelle, Konzepte, Starprofile und Mainstreammusik wie in einer Art Biomasseanlage immer wieder aufs Neue veredelt. Das schwedische Vorentscheidungskonzept toppt alles: Ihre Melodifestivalen laufen mit unfassbar vielen Vorrunden fast das ganze Jahr flächendeckend in allen schwedischen Städten. Es werden zwar neue Songs ins Rennen geschickt, aber diese sind meist vom immer gleichen Personenkreis und klingen seit 30 Jahren nach Abba. Mit der schwulen Communitiy haben sie eine gelenkte Konsumentengruppe an sich gebunden, so dass das Ganze nur noch einer geschlossenen narzistischen Selbstbespiegelung gleicht. Was die übrigen ESC-Produkte betrifft, kann kein amerikanisches Genre ausgelutscht genug sein, um nicht beim ESC noch als Ausdruck von Fortschrittlichkeit verkauft zu werden. Dies alles zum Nachteil europäischer Musiktraditionen, zum Nachteil eines europäischen Musikmarktes und seiner Profis (Komponisten, Autoren, Interpreten). 

Das Regelwerk zum ESC gibt keine Vorgabe, das Wort Musik kommt nicht mal vor. Es werden ein paar formale Kriterien genannt, sonst widmet es sich ausschließlich dem Votingprocedere. Interessenschwerpunkt der Verantwortlichen der EBU-Reference-Group (überwiegend Westeuropäer) ist der Wettbewerbshype. Es ist allerdings seit 2004 kein Geheimnis mehr, dass der ESC auch verdeckt militärischen Zwecken dient. Der Wettbewerbshype wird auf internationalem Niveau geradezu zur Kriegsstrategie instrumentalisiert. Oder will jemand ernsthaft behaupten, bei der nörgelnden Forderungen nach Schwulenemanzipation oder der Liberalisierung des aserbaidschanischen und russischen Gasmarktes "komme es nur auf den Song an"? 

Je mehr Teilnehmer, desto mehr Verlierer 
Dass bei steigender Anzahl Teilnehmer noch stets nur ein Preis verliehen wird, ist lieblos. Noch liebloser das Verfahren, WIE dieser Sieg ermittelt wird. Schon die Verrechnung unterschiedlicher Abstimmungsmodalitäten ist unredlich. Und dass eine Jury nicht mal zwischen Komposition, musikalischer Darbietung und Performance zu unterscheiden hat, finde ich laienhaft. Die laienhafte Jury dient nur rechnerischen Zwecken: Die Nähe der Jurymitglieder zu den Label, die Offenlegung ihrer Namen Wochen vorher sowie die irrsinnige Verpflichtung alle (ca. 40) Songs zu bewerten sieht nicht nach musikalischer Kompetenz, sondern eher nach nach Manipulation, Druck und Kontrolle aus. EINEN Siegersong kann man bei so viel Undifferenziertheit auch einfacher ermitteln. Mit diesem System kann man aber flächendeckend, wohlkalkuliert und in PR-Texten und Unternehmens-gebundenen Fanblogs breit ausformuliert künstliche Niederlagen erzeugen. Das könnte zum Teil erklären, warum die Anzahl der Länder gar nicht groß genug sein kann. 

Der ESC-Sieg und das Wunder des großen Glücks 
... bleiben für mich eine Glaubensfrage. So wie die Produkte der Biomasseanlage zunehmend gleich klingen, werden ihre Ergebnisse für mich langsam vorhersehbar. So ahnte ich 2013, dass es die Profimusiker aus Bulgarien, Mazedonien und Kroatien, die sich alle einer europäischen Musiktradition verpflichtet fühlen, nicht ins Finale schaffen würden. Auch die Negativ-Schlagzeilen um Cascada (Plagiatsvorwürfe), einer Musikerin, die bereits Erfolge vorzuweisen hat, waren mir nicht geheuer. Noch weniger ihre schlechte Platzierung. 

Was außerhalb des ESC so alles als 'individueller Ausdruck' verkauft wird, ist schon beachtlich, beim ESC dreht man uns davon sogar noch die Kopien an. Im Gegensatz zu den Profis gibt es bei Siegerinnen wie Emmelie de Forest (DK) oder Lena Meyer-Landrut (D) keinen kausalen Zusammenhang zwischen Leistung und Erfolg. Sie werden für den ESC kreiert und können nicht viel. Es sind schmalspurige Profile mit markanter Stimmklangfarbe meist nur um einen Sieger-Song (es kommt nur auf diesen Song an) konstruiert. Die Folge ist: 

- dass man sich die Sieger schnell über hört, 
- dass Profi-Musiker durch Laien und künstliche Niederlagen entmutigt und verhöhnt werden und
- dass das Publikum in seiner Wahrnehmung und Beurteilungsfähigkeit möglicherweise irritiert wird.

So kann man den Profis das Geschäft vermasseln und das Publikum möge bei so viel Irritation bereitwilliger auf die „eindeutigeren“ Produkte der (amerikanischen) Musikindustrie zurück greifen... und 

... einer Glücks-Ideologie Glauben schenken 
War der deutsche ESC-Sieg wirklich ein deutsches Glück? Für Stefan Raab schien in Vorbereitung auf USFO die Musik unwichtig, "es kommt darauf an, die Veranstaltung zu emotionalisieren“. Auch Stefan Raab wurde eines Besseren belehrt, denn fürs Geldverdienen zählt nicht mehr der Prozess, sondern nur das Produkt, das Lied. Raab war zum Schluss seiner Emotionalisierungskampagne weder Autor, Komponist noch Produzent. Stattdessen versprach man ihm gleich nach der Vorentscheidung die Titelverteidigung, wohl mit dem Hintergedanken nach noch mehr Emotionalisierung und Vernebelung, was allerdings den Glückscharakter des ESC-Sieg untergrub. Bei der Vorentscheidung 2011 mit 50x Lena gegen Lena kam eines der besten Lieder „Push Forward“ aus Deutschland. Nun verpasste Raab den Deutschen bewusst ihre Niederlage, indem er als Produzent und Moderator offen für ein US-Lied „emotionalisierte“. 

Bedauerlicherweise müssen sich in den nächsten Jahren alle - auch die guten - deutschen Musiker hinter diesem Halunkenstück aus 2010 geschlagen geben, denn gewonnen wird für Deutschland wohl erst mal nicht mehr. 

Der einzige Deutsche, der beim ESC bislang mit eigenen Produkten erfolgreich war, ist somit ungeschlagen Ralph Siegel. Auch Siegel muss seit Jahren nur noch Niederlagen einstecken, was ihn allerdings nicht daran hindert, zum dritten Mal in Folge mit Valentina Monetta für San Marino(!) anzutreten. Bei wahren Musikfans punkten die beiden damit sogar. An ihrem letzten Beitrag „Crisalide" meine ich übrigens bemerkt zu haben, dass Ralph Siegel noch stets für Orchester komponiert.

Zusammenfassung
Wenn es denn beim ESC "nur auf den 3-Minuten-Song ankommen soll“, sollten die Lieder aus den Teilnehmerländern kommen. Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sollten verpflichtet werden, zumindest EINMAL im Jahr den kleineren europäischen Label und/oder Musikern ohne Vertrag eine Chance zu geben. Das setzt allerdings voraus, dass diese einen Anspruch geltend machen. Auch die Möglichkeiten des Internets im Musikbusiness könnten ausgebaut werden (Stichwort Crowdfunding), zugunsten einer engeren Bindung zwischen Musiker und ihren Fans. Spätestens dann dürfte klar werden, dass es wahren Musifans eben nicht nur „auf den einen Song ankommt.“ Es geht auch um Glaubwürdigkeit, Gegenseitigkeit, Haltung und Verantwortung! 

Was das Format des ESC betrifft, wird mir die jetzige Ausrichtung langweilig. Ich habe mir 4 ESC live angesehen, es wiederholt sich nur noch. Dass man uns Fans die Stühle genommen und dafür die Tickets verteuert hat, macht es - zynisch gesprochen - auch nicht aufregender. Nichts spräche dagegen, den Contest wieder etwas kleiner und feiner aufzuziehen. Warum sollen jedes Jahr alle europäischen Länder zur Teilnahme verdonnert werden? Statt zahlreicher Vorrunden mit Liedern, die die Welt nicht braucht, wäre mir lieber, man konzentriert sich mit weniger Teilnehmern mehr auf die Live-Musik, möglichst mit Begleitorchester. Vielleicht könnte man Kriterien zugrunde legen, die den Musikern sogar als Herausforderung dienen. 

Dubiose Abstimmungsorgien und One-Hit-Wonder zerstören nur den Maßstab für Leistung und Erfolg und ebnen Hochstaplern den Weg, mit denen man langfristig nicht konkurrenzfähig sein wird. (Literaturtipp: Die Stunde der Dilettanten von Thomas Rietzschel). Wessen Markt davon profitiert, ist klar. Auch wenn sich TV-Leute als unfehlbar und sich Musiker desinteressiert zeigen und das Publikum sich mit wenig zufrieden gibt: Die Konkurrenz schläft nicht. Bei der Turkvision hatte ich den Eindruck, dass man sich in der türkischen Welt diesem falschen Business und Bewusstsein nicht ganz so unterwürfig und selbstzerstörerisch ausliefern möchte.

Die Schmetterlinge aus Österreich mit "Boom Boom Boomerang"
Eurovision Song Contest 1977, für Österreich mit 11 Punkten der vorletzte Platz:






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