Alyosha (Olena Kucher) wird die Ukraine beim diesjährigen Eurovision Song Contest mit dem Lied "Sweet People" vertreten. Geboren am 14.05.1986 in der Ukraine, mit abgeschlossenem Studium Popmusik-Gesang an der Kiewer Universität für Kunst und Kultur, einer 4 Oktaven umfassenden Stimme, mehreren Wettbewerbserfolgen und einem Plattenvertrag bei "Catapult Music" zeigt sie sich in Starlife überzeugt: "Mein Lied unterscheidet sich in seiner Art radikal von allen übrigen Songs der teilnehmenden Ländern bei der Eurovision 2010." (Моя песня кардинально отличается по стилю от песен других стран-участниц «Евровидения-2010)
Darum vote ich für Alyosha
Die älteren Musikfans werden sich erinnern: Es gab eine Zeit vor Abba. Abba gewann 1974 mit "Waterloo" den Grand Prix d'Eurovision de la Chanson und wird seitdem als die erfolgreichste Band dieses Wettbewerbs hochgehalten. Was war an Abba erfolgreich?
Für mich war Abba die erste Band, die kompromisslos nur auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtete Mainstreammusik produzierte und dies massiv zelebrierte. Bis dahin beeinflusst von Musik der Alternativkulturen, fiel der Erfolg von Abba für mich zusammen mit dem Bedeutungsverlust von Popkulturerfahrungen, denen global gemeinschaftsstiftende Werte eigen waren wie Selbstbestimmung, Emanzipation, Solidarität, einem Misstrauen gegenüber dem politischen und wirtschaftlichen Establishment sowie einer kritischen Einstellung gegenüber Wohlstand und seinen umweltschädigenden Folgen.
Für uns zählten Musiker, denen ihre Message mindestens so wichtig war, wie der Erfolg. Wir waren ein Publikum, deren Maßstäbe sich nicht auf irgendwelche Rankings beschränkte. Das hat es mal gegeben, auch in Deutschland, sogar beim Grand Prix:
"Rauch aus tausend Schloten senkt sich über Stadt und Land,
wo noch gestern Kinder war'n, bedeckt heut' Öl den Strand.
In den Düsenriesen fliegen wir dem Morgen zu,
wie wird dieses Morgen sein,
sinnlos oder voller Sonnenschein?"
(Katja Ebstein: Diese Welt, Grand Prix d'Eurovision de la Chanson 1971, Platz 3)
An diese Zeit erinnert mich der diesjährige ukrainische Beitrag "Sweet People" von Alyosha. Zufall? Mitnichten. Für diese Message hat die Ukraine einen bereits zuvor nominierten Kandidaten fallen gelassen, wegen der damit einhergehenden Überschreitung der Dead-Line eine Geldstrafe in Kauf genommen und sich bei Punktegleichstand mit einer anderen Kandidatin für Alyosha entschieden. Was war geschehen?
Der ukrainische Eurovisions-Skandal
Die Ukraine hatte bereits im letzten Jahr Vasyl Lazarovych intern nominiert. Auf Grund eines Protestes von Musikern und begünstigt durch einen Führungswechsel im ukrainischen TV-Sender NTU hat man zwei Tage vor der offiziellen Verlautbarungsfrist eine neue Vorentscheidung ausgerichtet, die Alyosha mit dem Titel "To Be Free" gewann. Keine 24 Stunden später musste dieser Titel jedoch disqualifiziert werden, da er zum einen schon lange zuvor veröffentlicht worden war und zudem stark angelehnt war an das Lied "Knock Me Out" von Linda Perry und Grace Slick. Alyosha durfte ein zweites Lied vorschlagen und präsentierte einige Tage später ihren Song "Sweet People".
Sollte ein beim ESC erfolgsverwöhntes Land wie die Ukraine plötzlich die Regeln vergessen haben? Wie dem auch sei, dieser Vorfall unterstreicht meine Wahrnehmung: Grace Slick, das ergibt für mich einen interessanten Bezugsrahmen. Der ausgebootete Kandidat wäre übrigens mit dem Gegenteil, einer konservativen Liebes-Musical-Schnulze aus dem konservativen Germany angetreten.
Yes, the message is so real
Fans und ESC-Experten räumen diesem Lied wegen eines Defizites an bombastischen DUR-Akkorden nicht den Hauch einer Chance ein. Das mag richtig sein, aber liegt es am Lied? Oder liegt es vielleicht eher an den seit vielen Jahren eingeschliffenen Hör- und Schreibgewohnheiten rund um den ESC? Alyosha mutet uns mit "Sweet People" eine sperrige, triste, soulige Rockmusik zu, die aber bestens zur aufrichtigen und kritischen Message des Konzeptes passt: Tschernobyl.
Mit dem Thema ist für mich ein weiterer persönlicher Bezug hergestellt. Ich erinnere mich gut an den Mai 1986, wo wir nicht mehr mit Straßenkleidung die Wohnung betreten sollten, die Kinder von Sandkästen fern halten mussten, keine Milch mehr trinken durften... Der eiserne Vorhang erlaubte damals kaum einen Blick auf den Ort des Geschehens und die vom Unglück betroffenen Menschen. Wurden damals die Fakten des Unglücks heruntergespielt, erlaubt sich die Ukraine heute - ausgerechnet beim ESC - mit einem nostalgisch anmutenden Protestsong an eine kritische Haltung gegenüber dem Wohlstand und seinen umweltschädigenden Folgen zu appellieren. 12 POINTS!
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