Aufschreckende Ereignisse aus München, Ansbach, Würzburg und Reutlingen haben in den letzten Wochen das unschuldige US-Entertainment im deutschen Boulevard verdrängt. Davon erschlagen fand ich dann doch noch einen anregenden Text auf den Nachdenkseiten, der sich mit gesellschaftlicher Aneignung und Codierung von Gewalt und Zerstörung beschäftigt. Ich staune nicht schlecht darin Beispiele für „Chiffren“ zu finden, die auch bei Aufbau und Verherrlichung der siegreichen Boulevard-Helden strapaziert werden.
Wie beim ESC sind auch bei Darstellung der terroristischen Anschläge die Sensationsmeldungen und Personen austauschbar. Es geht um:
Mediale Resonanz
Nachdenkseiten: „Die mediale Resonanz ist ein wesentlicher Faktor in der Planung von Tätern, die auf Anerkennung aus sind. […].“ Die mediale Resonanz – und nur die mediale Resonanz - ist wesentlicher Faktor in der Planung von Stars, die nur auf Anerkennung aus sind. Solides Handwerk, ewiges Lernen, geistige Auseindersetzungen, kritisches Hinterfragen und Ziele, für die man sich anstrengen muss, sind im Boulevard und beim ESC verpönt.
Gefördert wird:
Medialer Narzismus - Sich bekennen – Auserwähltheit simulieren
Nachdenkseiten: „Medialer Narzissmus ist etwas, das die heutigen westlichen Terroristen mit anderen jugendlichen Amokläufern gemeinsam haben.“ Aber auch mit unseren Promis, die sich uns ständig mit ihrem "So-sein" und mit irgendetwas „bekennen“. Nachrichtensprecher, die vor der Kamera unprofessionell in Tränen ausbrechen, um sich zu ihren Emotionen zu bekennen. Weibliche Männer und männliche Frauen, die jede Kamera für narzistische sexuelle Selbstbespiegelung nutzen.
Ganze Bevölkerungsgruppen werden nach jedem Ereignis aufgefordert, sich öffentlich sichtbar für oder gegen irgendetwas zu bekennen. Nahtlos fügen sich Bekennerbriefe und -videos der Terroristen in die Schlagzeilen ein.
Wie soll sich die Politik dem Bürger artikulieren, wenn jede Äußerung zum Glaubensbekenntnis umgedeutet und angreifbar gemacht wird? (Beispiel Wagenknecht) Wen wundert‘s, wenn sich diese narzistischen Chiffren und Worthülsen irgendwann alle in die Quere kommen?
Profile der Amokläufer und Superstars entsprechen weder der Alltagserfahrung noch dem Gerechtigkeitsempfinden
Bei beiden Themen wird das Schreibniveu herabgesenkt, mit einem stilistischen Einerlei wird uns eine Tellerwäscher-Ideologie in die Köpfe gehämmert. So wie ein ESC-Sieg wie ein Glückshöhepunkt im Leben von Sänger und Nation bejubelt wird, so scheint im Leben eines Amokläufers oder Terroristen Selbstauslöschung und Auslöschung einer Nation das einzig erstrebenswerte Glücksziel zu sein. Was dem Medienkonsumenten als unerklärbar, unberechenbar und je nachdem wie eine Gnade oder Strafe Gottes dargeboten wird, wirkt durch die beständig wachsende Menge an Superstars und Einzeltäter gleichzeitig wie Kalkül.
Nachdenkseiten: „Alle Versprachlichungen – mögen sie nun Hitler, Mohammed, IS oder sonst wie heißen – sind letztlich nur Chiffren. Es geht bei den jungen Männern – mit und ohne Migrationshintergrund – im Kern darum, aus dem Nichts einer randständigen Existenz, aus der Bedeutungslosigkeit herauszutreten und ein Gefühl des Existierens zu erzeugen."
Preise und Awards, Schein-Wettbewerbe von Dschungelcamp bis Eurovision… sind letztlich nur Chiffren, mit denen Tellerwäscher „aus dem Nichts einer randständigen Existenz, aus der Bedeutungslosigkeit heraustreten“ und der Verheißung eines medialen Senkrechtstartes entgegen fiebern.
Im gleichen Koordinatensystem wirken diese „Karrieren“ wie sich addierende Vektoren. Ein Koordinatensystem, in der die „randständige Existenz“ unverzichtbar und die Angebote zu derer Überwindung streng chiffriert bzw. kontrolliert werden. Hype oder Hell, Verherrlichung oder Dämonisierung.
Denkmuster erzeugen - Ist das noch Journalismus oder schon psychologische Kriegsführung?
An Eurovisionshelden wie Jamala, Lena oder Wurst fällt auf, dass vom ersten öffentlichen Auftritt an die Rezeptionsmuster mitgeliefert werden, denen sich Helden wie Publikum gleichermaßen zu unterwerfen haben. Abgedroschene Schlagzeilen und Millionen Fotos treten einen ungeheuerlicher Chat los, bei dem dann aber nur EINE Sichtweise geduldet wird, und die verbietet das Lachen, die Kritik und das Denken. Man soll es einfach nur „glauben“.
Perfekt durchgeführte terroristische Anschläge auf die Bevölkerung werden mit diffusen Schlagzeilen zu sonderbarsten Ermittlungsergebnissen umrahmt. Was die Rollenverteilung betrifft wird auch hier wird das Rezeptionsmuster mitgeliefert: Die randständigen Existenzen (Terroristen) sind Drehbuchautoren und Regisseure; ihnen wird die böse Macht zugesprochen, sich über Politik, Justiz, Militär und Geheimdienste zu erheben und diese mit der ahnungslosen Bevölkerung auf gleiche Stufe zu stellen. Auch wenn das nicht der Alltagserfahrung entspricht, muss das geglaubt werden.
Wenn ich gleichzeitig lese, dass es für die vom „Glauben“ beseelten Terroristen und Rebellen mittlerweile auch ein Ranking gibt mit Abstufungen von „lieb“ bis „ganz böse“, bekomme ich als Konsumentin den Eindruck, dass auch sie gecastet wurden und die Entwürfe aus einer einzigen Traumfabrik kommen. Den Rest an popkultureller Verwirrung erledigen Fotos von bewaffneten und besinnungslos lachenden IS-Rebellen in einer lustigen Panzerkolonne. CSD mit umgekehrtem Vorzeichen?
Verräterisch wird es schließlich, wenn ein Amokläufer wie Breivik Querverbindungen zwischen Terror und Entertainment herstellt, indem er seine Morde mit Missständen im Unterhaltungssektor rechtfertigt und eine Interdependenz gleich mitliefert: I hope Germany wins. Er scheint u. a. den „Chiffren“ der Eurovision und der Meyer-Landrut-Kampagne auf den Leim gegangen zu sein.
Bei der Meyer-Landrut-Kampagne wurden Politik, Wirtschaft, Kirche, Wissenschaft, amerikanische Musikindustrie, Rundfunk, Medien und anonymisierte Supportgruppen gegen die Bevölkerung aufgestellt. Eine Test-Kampagne, deren Design auf Verhöhnung des Profitums, auf Einschüchterung und Irritation der Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit abzielte und die an die Niedertracht und Schadenfreude sog. Loser appellierte.
Eingesperrt und korrumpiert im medialen Käfig
Die siegreichen Ranking-Helden würden unter normalen Bedingungen nicht die Scherbe eines Blumentopfes gewinnen. Wie beim Terrorismus lässt man auch beim ESC das Publikum stets ein wenig die einflussreichen Drahtzieher in ihrem Rücken erahnen. Bei Jamala ist es die Nato. Bei Wurst waren es US-Umsturzgruppen. Und erinnert sich jemand noch an FDP-Politiker und Promi Rolf Salo, der den Sieg der Nichte des Parteikollegen Nikolaus Meyer Landrut schon Wochen vorher herausposaunte?
:::
Sonntag, 31. Juli 2016
Abonnieren
Posts (Atom)