Mittwoch, 21. April 2010

Vom Entlein zum Schwan - Aserbaidschan

Als ich Anfang März die aserbaidschanische Vorentscheidung im Internet verfolgte, war ich entsetzt. Nach dem originellen Debüt 2008 und dem frischen Sommerhit 2009 nun ausschließlich Amateurhaftes? Der gesamte Ablauf war verwirrend. Die Jury - wahrscheinlich genauso entsetzt wie ich - verkündete erst nach einer halben Stunde ihr Ergebnis: Safura Alizadeh, beim Song wollte man sich noch nicht festlegen. Der Fanfavorit war sie nicht.

Safura - mit gerade 17 Jahren die jüngste Teilnehmerin dieses Jahr - sah aus wie ein 40 Jahre altes orientalisches Schönheitsideal der 60er Jahre und präsentierte eine verstörende Frauenklage mit dem Titel "Drip Drop". Ich schrieb Aserbaidschan für 2010 ab.

safura.eurovisiontalents.com
Bereits einen Tag später jedoch meldete die aserbaidschanische Presse, dass Safuras Auftritt mit Spezialisten aus der Ukraine und Schweden vorbereitet werden würde. Zeitgleich wurde eine 15-sprachige Homepage ins Netz gestellt, auf der Fans seitdem Safuras mühsamen wie erfolgreichen Weg nach Oslo verfolgen können. "She adores everything new, catching every chance to work with sound engineers, designers, make-up specialists, vocal coaches, doing every step of the Eurovision preparation road twice to make sure she’s done everything she can."

Die Homepage dokumentiert Safuras Arbeitsalltag und präsentiert auf Videoclips ihre Promo-Aktivitäten. Und kaum ein Tag vergeht an dem nicht eine Meldung der Superlative auf dieser Homepage erscheint:

18.03.10: The perfect combination of music by the two Swedish greats Anders Bagge and Stefan Örn and great lyrics by Sandra Bjurman was mixed by none other then Grammy winning producer Niklas Flyckt.

13.04.10: Beyoncé’s choreographer JaQuel Knight is working on mega performance for Drip Drop video and stage act to add celebrity momentum to Safura’s Eurovision bid.

15.04.10: So you see, Rupert Wainwright is definitely the one for Safura. And if we were you, we would look for the results of their collaboration very carefully for it almost certainly will become a classic in music video genre. [...] Along with Mr. Wainwright we have invited one of the most illustrious Hollywood stylists - Ms. Tanya Gill to work on the project. [...] Costume designer and stylist, worked for a different Hollywood project. Worked for Salma Hayek, Ashtom Kutcher, Sandra Bullock, Johnny Depp, Tom Cruise, Cameron Diaz, Prince, Michael Jackson, Mick Jagger and other celebrities. Took part in more than 30 commercials and music videos shooting, worked as stylist for Vogue, GQ, Vanity Fair, Details, was on tour with Backstreet Boys, Joe Cocker and Janet Jackson. Much impressed? Hope so!

19.04.10: Hollywood’s British actor Robert Pattinson is in Baku reportedly for starring together with Azerbaijan’s Eurovision 2010 singer Safura Alizadeh in her video clip “Drip Drop”.

Statt auf die Unbeholfenheit "unverbrauchter" Kandidaten zu setzen, strebt Aserbaidschan stringent Weltklasse an. Die junge Safura brauchte auch gar nicht lange, um im Westen anzukommen. Motiviert und cool ließ sie keine Session aus und sang und sang und sang...


Aserbaidschan
Aserbaidschan liegt am östlichsten Rand der Eurovisionsgemeinde. Dem empfehlenswerten (und humorvollen) Reisebericht von Ingo Petz "Kuckucksuhren in Baku. Reise in ein Land, das es wirklich gibt" entnehme ich, dass Aserbaidschan "ein Underdog ist. Aber Underdogs haben es in sich, sie sind die Antihelden, sie sind dem Leben näher als die glänzenden Marmorheroen. Aserbaidschan liegt im Osten [...], der Osten ist ein gutes Terrain für Rebellen, weil er einem viel abverlangt. Da geht es ans Eingemachte."

Beim diesjährigen Eurovision Song Contest wird das östlichste Land Aserbaidschan wahrlich den westlichsten aller Beiträge darbieten. Nicht der alte Westen, sondern Aserbaidschan löst alle popkulturellen Verheißungen und Versprechungen des Westens ein: Mut, Freiheit, Schönheit, Selbstständigkeit, Wettkampf, Chancengleichheit, harte Arbeit, Siegeswillen, Glamour, Glanz und Gloria.

Aserbaidschan macht uns endlich zu Premium-Kunden.

01.04.10: Safura will appear on Schuster LIVE TV show. [...] For those who are following Safura’s career from different countries we are going to say that Schuster is the most important TV personality of modern Ukraine and to appear on his show is like getting a free pass to show biz heaven. Right on, Safura!

Statteines hinterwäldlerischen Mädchens tritt eine atemberaubend schöne, selbstbewusste, junge Frau vor die Kamera, die mit raffinierter Dramatik und einer glanzvollen Powerballade wie eine Überzeugungstäterin zu beeindrucken versteht. Daran müsste man nach meinem Geschmack nichts mehr ändern.





Selbst wenn Safura scheitern sollte, wird ihr als junge Musikerin ein solcher Profi-Schnupperkurs sicherlich Erfahrung und ein Stück Unabhängigkeit verschafft haben, mit der sie eine Karriere fortsetzen kann.

Wer beim Song Contest selbstbestimmte Musiker und Independent Label ausgrenzt und sich lieber den Starkonzepten der Major Label unterwirft, muss konsequenterweise das aserbaidschanische "Konzept der Superlative" begrüßen und bewundern, alles andere wäre verlogen.

Daher sollte man den Aserbaidschanern dieses Jahr die Daumen drücken für das, was sie sich vorgenommen haben: GEWINNEN.



Samstag, 10. April 2010

Estland auf dem richtigen Weg - Malcolm Lincoln & Manpower4

Nach bereits 15 Teilnahmen und einem Sieg im Jahr 2001 ist Estland auch dieses Jahr wieder dabei. Musikalisch gesehen als Außenseiter, denn der estnische Beitrag wird wohl das Modernste sein, was man bisher beim Contest gehört hat.

Und dabei wirkt das Musikstück überhaupt nicht aufgesetzt schrill oder gewaltwitzig, sondern ragt für mich gerade wegen seiner Nonchalance hervor: Eine wenig markante Melodie, ständige Tempowechsel, ein Chor, der mehr auf Soundbereicherung setzt, untermalt mit elektronischen Klangstrukturen, das alles gibt dem Stück eine angenehm räumliche Weite.


"It’s time to make it clear what is lost and what is found,

My life has been oh lame, has been oh lame so far

I wasted years, I wasted time trying to reach the stars."


Hier hat sich mal schlicht der gute musikalische Geschmack gegen jedes Contest-Kalkül durchgesetzt. Ähnliches lässt sich von der Performance bei der Vorentscheidung sagen: Auf so etwas Einfaches muss man erst mal kommen!






"Malcolm Lincoln & Manpower4" ist ein Projekt von Robin Juhkental, von ihm ist auch das Stück "Siren". Robin ist studierter Straßenbauingenieur und macht seit ungefähr 6 Jahren Musik. Sein Contest-Stück ist nicht gerade repräsentativ für seine Musik, siehe http://www.myspace.com/malcolmlincoln

Von einer internen Jury zunächst abgelehnt, durfte er wegen der Disqualifizierung eines Teilnehmers nachrücken und gewann dann bei der Publikumsabstimmung prompt die Vorentscheidung. Damit setzt Estland dieses Jahr auf die Kreativität und den Eigensinn junger Musiker, diese sind allerdings für ihre Contest-Teilnahme und die Promotion selber verantwortlich. "Kein Problem", wie Robin signalisiert. Gute Musik wirbt für sich, und Robin profitiert bereits jetzt von seinem Erfolg. Wer Robin gerne im Finale sehen möchte, kann beim 1. Semifinale am 25.05.2010 für ihn anrufen.

Weil mich diese Musik freut und fasziniert, habe ich Malcom Lincoln ein paar Fragen geschickt, hier sind seine Antworten:


Hi,

really sorry for the delay, but I've been really busy lately- working day and night.

Best,

Robin



1. When I first listened to your song “Siren”, your name was Robin Juhkental, but who is Malcolm Lincoln? Is this a special Eurovision-Song-Contest-Project?


Robin: First I forgot to put a performer name to a form we had to fill, when I sent my demo to estoninan eurovision pre-selection, so they used a name of the author.

Malcolm Lincoln is a project that was active before this eurovision fuss started.


2. When I first heard your song my impression was: Wow, very britsh! What kind of music do you prefer? Are there any influences from other bands?


Robin: I listen to all kind of music: electro, jazz, rock'n' roll etc
Siren was written 4 years ago, when I was under big influence of britpop.

3. Are you a professional musician? And can you live from your music?


Robin: I'm not a professional musician, but now that this eurovision thing made us quite big in estonia I can live from my music.


4. When did you start with your music career?


Robin: I bought my first guitat when I was 15, about 6 years ago.


5. Are there already releases, albums?


Robin: Malcolm Lincoln's first album is gonna be released at the end of april.


6. Your song isn’t typical for the ESC. I dare say, the song is one of the most modern songs of ESC ever. Did you want to modernize the ESC? ;-)


Robin: Estonia has changed the direction- not to pick or choose a potential eurovision winner song, but to select a song that Estonian like the most.


7. Fans of ESC are usually a little bit conservative. I will hope, that they can appreciate your modern style. So what are you doing to promote your song? Do you get any support?


Robin: I don't really care much about the place on Eurovision song contest, and I can't say I'm promoting it a lot, we'll see how it goes.


8. Have you already listen to the other songs von ESC 2010? What do you think about them? Do you have preferences?


Robin: Haven't heard other songs yet. Hopefully there are some really good tunes there in the selection.


Übrigens hat Robin mit Hanna Samoson auch den diesjährigen interessantesten Preview-Clip gemacht:



http://www.youtube.com/watch?v=KEcNfmuF4YA

Dienstag, 6. April 2010

Share The Moment - Share The Music - With Russia








„Gewöhnlich versucht man, seine Musik wie möglich teuer zu verkaufen. Aber es scheint uns unrichtig! Musik zu schenken, wenn es so eine Möglichkeit gibt, das ist doch viel angenehmer!"


So der diesjährige russische Repräsentant beim Eurovision Song Contest, Peter Nalitch, in einem Interview mit der Stimme Russland. Das ist doch mal eine Ansage! Man spürt förmlich, wie sich bei BVMI, GEMA oder den Major Label die Nackenhaare sträuben.

Und zu seiner Meinung über Common Creatives: „I don’t know them, ask later, I will prepare. If one visit our site www.peternalitch.ru he will learn, that all our music (about 50 tracks) we are spreading for free. That is our motto."


Geld verdienen er und seine Band – das Musikerkollektiv Peter Nalitch (MKPN) – mit Liveauftritten, von denen sie aber nicht mehr als 3 im Monat aufführen, sonst „verschwindet die richtige Stimmung“. (Stimme Russland)





Es kommt so, wie es kommt

Nalitch, 1981 in Moskau geboren, ist eigentlich studierter Architekt. Da ihn diese Arbeit auf Dauer langweilte, startete er gleichzeitig eine Ausbildung als Musiker am Moskauer Konservatorium, wo er sich vor allem auf klassischen Gesang konzentrierte. Zugleich spielte er auch in Bands. Da das alles auf Dauer nicht miteinander zu vereinbaren war, brach er das Musikstudium schweren Herzens ab und konzentrierte sich fortan auf seine Karriere in der Unterhaltungsmusik. „Beide Genres machen doch mir, sowie dem Publikum Spaß. Es kommt so, wie es kommt.“ (Stimme Russland)



Bekannt geworden ist Nalitch als ein Internet-Hype mit einem selbstgemachten Videoclip „Guitar“, dass er im Frühjahr 2007 ins Netz stellte. Zuerst geschah ein halbes Jahr gar nichts, dann plötzlich verbreitete sich der Clip wie ein Virus um die ganze Welt und erzielte in kürzester Zeit hohe Hitraten. Somit ist Nalitch der erste russische Musiker, der allein durch das Internet berühmt wurde, ohne designte Kampagne und ohne irgendwelche Promotion. Sogar der Spiegel vermeldete im November 2007, dass „der Absurdmusiker Osteuropa die Schönheit der Ironie nahebringe - und dem Rest der Welt den Zauber seiner "Gitarrrrrrr".




Zum Musikerkollektiv gehören
Peter Nalitch (Gesang, Piano, Akkorden),
Yura Kostenko (Saxophone, Flöte),
Sergey Sokolov (Domra, Gesang),
Kostya Shvetsov (Gitarre),
Dima Simonov (Bass) und
Denis Marinkin (Drums).

Alle Künstler sprechen fließend Babursi, eine Sprache, die sie sich selber ausgedacht haben (ähnelt stark dem Englischen ;-) Zu ihren musikalischen Einflüssen: „Die ethnische Musik verschiedener Völker stand immer uns nah, von den Zigeunerromanzen bis zu den nationalen Volksliedern Russlands und der Ukraine. Latein-amerikanische und balkanische Musik, sowie italienische und neapolitanische Lieder begeisterten uns immer. Wir hören diese Musik, lassen sie in sich hinein und verarbeiten. Und das gibt uns neue schöpferische Kräfte." (Stimme Russland)

Was haben Jan Delay und Xavier Naidoo mit Peter Nalitsch & Friends gemeinsam?
Alle werden neben vielen anderen Künstlern bei STIMMEN 2010 (14.07.2010 - 08.08.2010) in Lörrach auftreten. Wäre dies ein Wettbewerb wie USFO, müssten sich aber die ehemaligen deutschen Juroren warm anziehen.

Zur Frage, ob sie denn ihren Contest-Song "Lost And Forgotten" promoten wollen: „Now we are just thinking about it, may be we will not promote it at all.“ Vielleicht gar nicht verkehrt gedacht, denn:

“Es kommt so, wie es kommt."

Wer die Band beim Eurovision Song Contest sehen möchte, sollte das 1. Semifinale am 25.05.2010 nicht verpassen. Und wenn genug für ihre Anarcho-Schnulze anrufen, gibt es vielleicht sogar ein Wiedersehen beim Finale am 29.05.2010.
Semifinale 1 - 25. Mai 2010