Konnte sonst geträumt, befürchtet und spekuliert werden, wer Deutschland wohl nächstes Mal beim Eurovision Song Contest vertritt, erübrigen sich solche Überlegungen bereits seit Juli. Nicht mal ein Genre gilt es zu erraten, da sich wohl nur Einzelkandidaten bewerben können, was Bands ausschließt.
Stefan Raab will den wahren Interpreten und das ideale Lied erst noch produzieren. Zum Spekulieren gibt es da nix. Bedauerlich für solche Fans, die Fan einer bestimmten Musikrichtung oder eines bestimmten Interpreten sind, für sie ist es gelaufen, bevor es überhaupt angefangen hat.
Wen stört’s?
Den zumindest jüngeren Zuschauern und Fans eher nicht. Präferierten die Contest-Fans früher bestimmte Musikrichtungen und Interpreten, hat sich der Interessenschwerpunkt im Allgemeinen - seit Einführung des Televotings und Casting-Shows - auf eine spezielle Unterhaltungsform verlagert. Musik wird Nebensache, woran das Formatradio nicht ganz unschuldig ist.
Statt für eine Musikrichtung oder einen Star zu fiebern, gibt es in Fankreisen nicht von ungefähr seit einigen Jahren die Umschreibung, sich „ein Lied schön hören“. Dahinter mögen sich Gleichgültigkeit oder Kapitulation verbergen, die zum Glück „noch“ von anderen europäischen Ländern aufgefangen werden, denn diese bringen den etablierten Stars mehr Wertschätzung entgegen und bieten damit musikliebhabenden Fans die letzten wahren Tummelplätze. Hier kann man seine Star-Kontakte und das Insider-Wissen nach Herzenslust ausbauen und ausleben.
Seit man den Zuschauer aktiv am Geschehen teilnehmen lässt, gilt die Devise „Dabei ist alles.“ Aber auch bei nicht-aktiver Teilnahme scheinen jüngere Zuschauer oftmals lieber den Äußerungen einer Jury, als dem Selbstausdruck eines etablierten Musikers zu lauschen. Clever gemacht, denn was die Jurys erzählen, kann im Grunde jeder erzählen und so fühlt sich vielleicht jeder zum Beurteilen und Mitreden ermuntert.
Wer ist man eigentlich?
Wer aber meint, diese Sendungen würden damit eine vielseitige, abwechslungsreiche Kommunikation zur Folge haben, liegt falsch. Wenn man der idealtypologischen Dreiteilung Stuart Halls in seinen „Encoding/Decoding-Modell“ (1980) auch heute noch Glauben schenken darf, produzieren Casting-Shows neben einer Menge Wegwerfstars sagenhafte drei Grundtypen an Zuschauerhaltungen, nämlich:
1. den dominant-hegemonialen Typ: Zuschauer mit einer solchen Lesart akzeptieren das Programm voll und ganz. Sie stimmen mit der dominanten Ideologie überein und benutzen diese Ideologie, um ihr eigenes Leben und Verhalten sich und anderen zu erklären, notfalls auch aufzuzwingen (wie der Begriff schon andeutet),
2. der Typ mit ausgehandelter Position: Dieser geht zwar in weiten Teilen mit der dominanten Ideologie konform, „verdreht“ den Medientext allerdings, um den individuellen Interessen gerecht zu werden. Diese Lesart kann gewisse Aspekte einer Show ignorieren (schön hören?), um sich auf bestimmte Aspekte zu konzentrieren, die zum eigenen Weltbild passen.
3. Die „radikalste“ Lesart ist die oppositionelle Einstellung, die sich aktiv gegen die vom Sender bezweckte dominante Lesart richtet.“ (aus: Schwarz, Claudia: „Der Event im Wohnzimmer“, sws-rundschau.at, SWS Rundschau (46. Jg. Heft 2/2006), S. 219.
Casting-Shows bedienen also kein musikalisches Bedürfnis, sondern leider nur psychische Dispositionen.
Samstag, 12. September 2009
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